„Immer wieder tauchte Sindelar vor dem deutschen Tor auf. Beängstigend oft. Treffen wollte er nicht. Durfte er vielleicht auch nicht. Die Österreicher führten an diesem 3. April 1938 mit ihrem Spielwitz den verbissen kämpfenden Gegner vor. Doch sie schossen daneben, drüber – oder gar nicht. Der filigran-elegante Sindelar und der füllige, durch Disziplinlosigkeiten bestechende Sesta. Beide, die so gar nicht ins strenge, von Athletik geprägte deutsche Konzept passten. Eine hohe Pausenführung wäre machbar gewesen. 4 : 0 etwa – ein Spielstand, der die Demütigung der Deutschen durch die demonstrativ in rot-weiß-roten Dressen angetretenen Österreicher zählbar gemacht hatte. Die 60.000 Zuschauer im Wiener Praterstadion feuerten ihr Team frenetisch an. Ein Team, das es 22 Tage nach dem Anschluss an das Großdeutsche Reich eigentlich gar nicht mehr hätte geben dürfen. Denn schon am 28. März war der Weltverband FIFA vom Österreichischen Fußballverband in Kenntnis gesetzt worden, dass er seine Organisation aufgelöst habe. Eine Woche vor der Volksabstimmung nützten die Nazis das Spiel als Propaganda-Veranstaltung. Nicht Sieg oder Niederlage sei wichtig, sondern der Beweis, wie „einmütig alle Beteiligten hinter Adolf Hitler“ stünden.“ So berichtete der „Völkische Beobachter“ am Tag danach, nach dem Sonntag, 3. April 1938.
Damit war jene Volksabstimmung gemeint, die am 10. April 1938 vonstatten ging. Anhand dieser Volksabstimmung wurde mit 99,5% an „JA“-Stimmen für den „politischen Anschluss Österreichs an Deutschland“ gestimmt. „Das fußballerische Versöhnungsspiel im Wiener Prater hatte seine Pflicht erfüllt!“ frohlockten die neuen Machthaber im Land. Nicht zugelassen zur Volksabstimmung waren jüdische Mitbürger und inhaftierte politische Gegner. Ebenso kursierten Gerüchte, dass etwaige „NEIN“-Stimmen-Abgeber denunziert und somit verfolgt werden würden.
Beide Teams – Deutschland in schwarz-weiß gekleidet – präsentierten sich den 60.000 Zuschauern vor dem Anpfiff mit dem „Hitler-Gruß“. In der Halbzeitpause überbrachte der neue Bürgermeister von Wien Hermann Neubacher Grußworte an die ausländischen Gäste und das zahlreich erschienene Publikum. Und Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten entgegnete ausländischen Presseberichten, „dass es eine große Lüge sei, festzuhalten, dass der österreichische Fußball tot ist. Ganz im Gegenteil: Wiener Fußballkunst und Wiener Fußballschule sind einzigartig in der Welt und wir wären Narren, wenn wir diese Einzigartigkeit zerstören würden.“
Nicht erwartete Freude in Rot-Weiß-Rot
Der „Papierene“ Matthias Sindelar und der „Blade“ Karl Sesta trafen in der zweiten Hälfte doch noch. Österreich, oder vielmehr „Deutschösterreich“ schlug als „Gaumannschaft“ der „Ostmark“ das „Altreich“ Deutschland mit 2 : 0. Das „Wiener Tagblatt“ fragte am Tag danach nach: „Hat das bessere System gesiegt?“ Und kam sogleich zu dem Schluss, „dass nicht das System – die Deutschen spielten WM – sondern die besseren Fußballer den mehr als verdienten Sieg davongetragen haben.“
Für das deutsche Fachblatt „kicker“ handelte es sich dabei um „das Glaubensbekenntnis der Fußballer im Großdeutschen Reich“, für die Wiener um eine Möglichkeit, ihre spielerische Überlegenheit trocken zu dokumentieren. „Deutsch-Österreich“ gewann mit 2 : 0. Die Demonstration der Wiener Schule des sogenannten „Scheiberlns“ war dem Deutschen Spiel zuvorgekommen. Österreich war drückend überlegen und allen voran Matthias Sindelar, damals bereits im fortgeschrittenen Fußballer-Alter, ließ die deutschen Teamspieler oftmals alt aussehen, ja, er vergab fast schon provokativ die allerbesten Einschuss-Möglichkeiten. Sindelar erzielte auch das 1 : 0. Franz „Bimbo“ Binder knallte das Leder wuchtig an die Stange und den Abpraller verwertete der „Sindi“ unhaltbar zur Führung. Karl Sesta´s Tor zum 2 : 0 ereignete sich so: „Österreichs Verteidiger Sesta führte von der Platzmitte einen Freistoß aus. Der Ball, der beträchtliche Höhe erreichte, senkte sich vor dem Tor der Deutschen, Keeper Hans Jakob griff ins Leere – und das Leder kullerte ins Netz.“
Das Wiener Publikum feierte frenetisch seine Helden, tosender Beifall und lautstarker Jubel schwappte durch das weite Prater-Rund. Dies ging sogar so weit, dass die Herren der „Reichssportführung“ sehr irritiert und erstaunt über diesen Fanatismus für Österreich waren. Beim Fußball kannten die Wiener eben keinen Spaß.
Der „alternde“ 35-jährige Sindelar, der sich im Herbst 1937 verletzt hatte, kehrte nach drei Spielen Pause erneut für dieses Spiel in das rot-weiß-rote A-Team zurück und bestritt nach 43 Länderspielen für den ÖFB kein Match mehr in der Nationalmannschaft, auch und gerade nicht als „frisch adoptierter Ostmärker“ für das „Altreich“ Deutschland. Sehr zum Missfallen des deutschen Reichstrainers Sepp Herberger, der in seinem Team fest mit der Größe von Matthias „Motzl“ Sindelar gerechnet hatte. Spielführer Sindelar schlug auch vor, dieses Spiel in den rot-weiß-roten Auswärtsdressen der Österreicher zu bestreiten. Und eben dieser ÖFB a.D.-Teamkapitän Matthias Sindelar absolvierte nach Spielschluss wahre Freudentänze über diesen Erfolg, die das Wiener Publikum am liebsten nachmachen wollte. Worüber Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten nicht gerade erfreut war und von einem „eigenartigen Nationalismus der Österreicher sprach“. Was dem „Völkischen Beobachter“ wiederum zu folgender Wort- und Zeilenspende verhalf: „Das Spiel wurde eine rechte Werbung für die großdeutsche Vereinigung und dürfte auch die ihm gestellte Aufgabe im Rahmen des Wahlkampfes samt Volksabstimmung voll erfüllt haben.“
Wie es überhaupt dazu kam
Österreich war mit dem sogenannten „Anschluss an Hitler-Deutschland“ in den März-Tagen des Jahres 1938 von der Landkarte verschwunden. Die politischen Vorgänge kosteten dem österreichischen Staat seine Existenz und bewirkten dessen Aufgehen im Deutschen Reich, wo sich die Erste Republik als „Ostmark“ wiederfand. Die politische Macht gliederte den kleinen, sportlich jedoch mächtigen österreichischen Verband in den NSRL (Nationalsozialistischer Deutscher Reichsbund für Leibesübungen) ein, in dessen Rahmen er unter der prosaischen Bezeichnung „Gau XVII Ostmark“ dem „Reichsfachamt Fußball“ in Berlin unterstellt wurde. Der ÖFB musste damit seinen Austritt aus der FIFA bekanntgeben und im Sessel des Präsidenten saß als „Gaufachwart“ quasi fest im Sattel der pensionierte Berufsoffizier Hans Janisch.
Das bedeutete eben auch das Ende für den Österreichischen Fußball Bund / ÖFB als einer der ältesten Verbände Europas ein Pionier des Fußballsportes, der sich rühmen darf, im Jahre 1902 in seinem Land das erste kontinentale Länderspiel der Fußballgeschichte veranstaltet zu haben. In jenem Telegramm aus Wien, das am 28. März 1938 an den Fußball-Weltverband FIFA gesandt wurde, stand folgendes zu lesen: „Ich beehre mich, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass der ÖFB seine Organisation liquidiert hat und die gesamte Verwaltung seiner angeschlossenen Vereine dem Deutschen Reichsbund für Leibesübungen, Fachamt Fußball, Berlin-Charlottenburg, übertragen wurde. Der ÖFB hat mit heutigem Tage als selbstständiger Staatsverband zu bestehen aufgehört, womit seine Mitgliedschaft zur FIFA als erloschen zu betrachten ist. Mit deutschem Sportgruß: Dr. Richard Eberstaller, ÖFB-Präsident und Oberlandesgerichtsrat, Wien“
Österreich trat in Rot-Weiß-Rot folgendermaßen an:
Tor: Peter Platzer (SK Admira Wien)
Abwehr: Willibald „Willy“ Schmaus (First Vienna FC), Karl Sesta (Ostmark-Austria / FK Austria Wien)
Läuferreihe: Stefan Skoumal (SK Rapid Wien), Johann „Hans“ Mock (Ostmark-Austria / FK Austria Wien), Franz Wagner (SK Rapid Wien)
Angriff: Johann „Hans“ Pesser (SK Rapid Wien), Franz „Bimbo“ Binder (SK Rapid Wien), Matthias Sindelar (Ostmark-Austria / FK Austria Wien), Josef „Pepi“ Stroh (Ostmark-Austria / FK Austria Wien), Wilhelm „Willy“ Hahnemann (SK Admira Wien).
Deutschland spielte in weißen Trikots und schwarzen Hosen:
Tor: Hans Jakob (Jahn Regensburg)
Abwehr: Paul Janes (Fortuna Düsseldorf), Reinhold Münzenberg (Alemannia Aachen)
Läuferreihe: Andreas Kupfer (1. FC Schweinfurt 05), Ludwig Goldbrunner (FC Bayern München), Albin Kitzinger (1. FC Schweinfurt 05)
Angriff: Ernst Lehner (TSV Schwaben Augsburg), Rudolf Gellesch (FC Schalke 04), Hans Berndt (Tennis Borussia Berlin), Josef „Jupp“ Gauchel (TuS Neuendorf / TuS Koblenz), Josef „Seppl“ Fath (Wormatia Worms)
Als Schiedsrichter agierte an jenem 3. April 1938 Alfred Birlem aus Berlin.
Österreich gegen Deutschland – Mehr als nur ein Fußballspiel
Am Dienstag, 21. November 2023 steigt um 20.45 Uhr an eben dieser hier geschilderten Wirkungsstätte, die nun seit 1993 den Namen von „Wödmasta“ Ernst Happel trägt,
erneut ein „freundschaftliches Länderspiel“ gegen Deutschland. Es geht um „sportlich“ nichts, und dennoch geht´s um was. Österreich verbindet mit Deutschland seit jeher eine „freundschaftliche Hassliebe“, die gerade beim Fußballsport stets als Kampf des Davids gegen den Goliath anzusehen ist. Im Laufe von 115 Jahren Länderspielgeschichte – die erste Begegnung stieg am 7. Juni 1908 – gegen den „großen“ Bruder gab es immer wieder „Haxlbeißereien“ der „kleinen“ Österreicher, die Gott Lob nicht nur mit Ing. Edi Finger und Cordoba 1978 zu assoziieren sind.
Im Laufe der Jahrzehnte konnten „wir“ dem Deutschen Nachbarn bereits sehr oft „ein Haxl stellen“. Und wenn man so will, ist Österreich seit 10 Jahren gegen Deutschland ungeschlagen und das letzte Aufeinandertreffen in Klagenfurt im Jahre 2018 endete mit einem 2 : 1 für Rot-Weiß-Rot. Nichtsdestotrotz bleibt Österreich in seinem nun anstehenden 827. ÖFB-Länderspiel der Geschichte (davon dem 41. gegen Deutschland), gegen den „großen“ Bruder Außenseiter, wenngleich der ehemalige DFB-Teamchef Joachim „Jogi“ Löw bereits im Jahre 2012 erkannte, dass Länderspiele für ihn gegen Österreich „stets auf Augenhöhe stattfinden“. Der Blick in die Statistik ist aus österreichischer Sicht trotzdem ernüchternd: Lediglich 9 Erfolge konnten in 40 Vergleichs-Kämpfen bei 25 Niederlagen und 6 Unentschieden errungen werden, bei einer Tordifferenz von 57 : 90.
Das hier geschilderte Anschlussspiel – „Der vergessene Triumph“ – scheint in dieser Wertung nicht auf, keine Statistik zeugt von dem Geschehen. Auf eine seinerzeitige oepb–Nachfrage um eine etwaige Spiel-Aufnahme in die Wertung bei den Verbänden ÖFB und DFB wurde folgendes mitgeteilt;
Alfred Ludwig, damaliger ÖFB-Generaldirektor:
„Gerade wir vom ÖFB versuchen die Ereignisse dieser unsäglichen historischen Epoche unseres Landes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und engagieren uns auch aus diesem Grund seit Jahren regelmäßig in Initiativen gegen Faschismus und Rassismus. Bei dem angesprochenen Spiel im April 1938 handelte es sich allerdings definitiv um kein offizielles Länderspiel zwischen den Auswahlen der Fußball-Verbände aus Deutschland und Österreich. Bei allem gebotenen Respekt vor der Leistung der damaligen Auswahl, die ja auch aus einigen Spielern des legendären „Wunderteams“ bestand, gibt es von unserer Seite keinen Anlass und auch keinen berechtigten Grund, dieses 2 : 0 in die offizielle Statistik aufzunehmen. Darüber hinaus wäre auch nicht zu erwarten, dass unsere freundschaftlich verbundenen Nachbarn aus Deutschland einem solchen Antrag zustimmen würden, genauso wenig realistische Chancen gäbe es für eine Anerkennung durch den Weltfußballverband FIFA. Wir ziehen, wie erwähnt, diese Möglichkeit definitiv nicht in Betracht.“.
DFB, Direktion Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit:
„Wir sind Ihnen sehr dankbar für den Hinweis auf das Spiel vom 3. April 1938. Es ist ein Spiel, das nicht in Vergessenheit geraten darf. Der DFB ist sich seiner gesellschaftlichen und auch seiner historischen Verantwortung bewusst. Wir wollen uns nicht nur mit den sportlichen Erfolgen schmücken, wir wollen auch die anderen Seiten deutscher Fußballgeschichte abbilden. Bei der rein sportlichen Bewertung des Spiels vom 3. April 1938 kommen wir gleichwohl zu einem klaren Ergebnis. Offiziell hieß das Spiel „Ostmark gegen Altreich“, man sprach damals vom „Verbrüderungsspiel“ oder auch vom „Anschluss-Spiel“. Das Spiel fand drei Wochen nach dem „Anschluss“ von Österreich ans Deutsche Reich statt. Die Begleitumstände werden in den historischen Quellen beschrieben. Es war kein Vergleich zwischen den Auswahlmannschaften zweier souveräner Staaten und findet folglich keinen Eingang in die offizielle Länderspielstatistik. Der Fußball-Verband Österreichs wertet dieses Spiel genau so, auch dort ist das Spiel in der offiziellen Länderspielstatistik nicht erwähnt. Nicht anders wird die Partie vom Fußball-Weltverband FIFA eingeschätzt.“
Nichtsdestotrotz: Diese Match-Demonstration der Österreicher, dieser unbedingte Siegeswille im völlig wertlosen „Anschlussspiel“ soll mitunter auch Zeuge dessen sein, dass die einstigen „Wunderteam“-Fußballer nicht allesamt und quer durch die Bank Nazis waren. Ganz im Gegenteil, man war als Österreicher für „Deutsch-Österreich“ stolz, das „Altreich“ Deutschland geschlagen zu haben.
Der Linzer Journalist und Publizist Erwin H. Aglas, der seinerzeit als junger Redakteur im damals noch zweistöckigen Wiener Stadion zugegen war, erinnerte sich noch Jahrzehnte später an dieses „sportlich bedeutungslose wenngleich für zahlreiche Ostmärker bedeutungsvolle“ Match: „Auch, wenn das Wunderteam bereits Geschichte war und auch, wenn deren sportliche Betreiber ihren Zenit bereits überschritten hatten, so dokumentierte diese Elf am Rasen, was immer noch in ihr steckte. Die absolut besseren Fußballer und das feinere System gewannen an diesem Tag. Die Wiener Fußballkunst zeigte noch einmal auf, was sie kann und was sie einst berühmt gemacht hatte.“
Bild 1: Jubel der „österreichischen“ Zuschauer im Wiener Stadion nach dem 1 : 0. Foto: privat
Bild 2: Cover des 16-seitigen „Fußball-Sonntag“ vom 3. April 1938. Sammlung: oepb
Quelle: Redaktion www.oepb.at
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