Wir möchten heute an Lutz Eigendorf (*16. Juli 1956 in Brandenburg an der Havel (DDR), † 7. März 1983 in Braunschweig in der BRD) erinnern, der auf höchst tragische Art und Weise aus seinem noch sehr jungen (Fußballer)-Leben gerissen wurde.
Geboren und aufgewachsen hinter dem Eisernen Vorhang
Als Lutz Eigendorf im Jahre 1956 in Brandenburg an der Havel zur Welt kam, stand die Deutsche Demokratische Republik / DDR (gegründet am 7. Oktober 1949) gerade in ihrem 17. Bestandsjahr. Die Eltern verfrachteten – wie damals Usus – den siebenjährigen Knaben 1963 zum Deutschen Turn- und Sportbund / DTSB. 1973 stieß Lutz Eigendorf zum Freien Deutschen Gewerkschaftsbund / FDGB, ehe er 1978 Mitglied der SED / Sozialistische Einheitspartei Deutschlands wurde. Die weitere Karriere im „Arbeiter- und Bauernstaat“ schien damit vorgegeben.
Schiebermeister BFC
Die Fans des SG Dynamo Dresden, 1. FC Lokomotive Leipzig, BSG Sachsenring Zwickau, FC Carl Zeiss Jena, Hallescher FC Chemie, 1. FC Magdeburg, BSV Stahl Brandenburg und so weiter, allesamt gestandene Mitglieder der DDR-Oberliga, wurde nie müde, ihre Choräle anzustimmen, wenn es in der Meisterschaft gegen den unbeliebten Serienmeister Berliner FC Dynamo aus Hohenschönhausen ging. Es hielt sich damals hartnäckig die Tatsache, dass ein Spiel gegen den BFC nie 90 Minuten dauert, sondern immer erst dann abgepfiffen wird, wenn der „Stasi-Club“ in Front liegt. Sollte ein DDR-Klub demnach aufgrund sportlich „widriger“ Umstände nach 90 Minuten gegen den BFC mit 2 : 0 in Führung liegen, resultierte daraus nach 100 gespielten Minuten oder mehr stets noch die „ohnehin erwartete“ Niederlage. Erich Mielke, glühender Anhänger des Berliner FC Dynamo und jahrelanger Minister für Staatssicherheit in der DDR, wollte sein Liebkind eben stets oben sehen. Was zur Folge hatte, dass der BFC von 1978/79 bis einschließlich 1987/88 durchgehend Meister der DDR-Oberliga war, somit auch Rekordmeister der DDR ist. Und genau diesem Stasiklub BFC trat Lutz Eigendorf 14-jährig im Jahre 1970 bei.
Aus Ost-Berlin in den Westen
Der Teenager Lutz Eigendorf besuchte eine Spezialschule für sportlich talentierte Kinder und Jugendliche. Die Absolvierung dieser KJS, benannt nach dem Ringer und Widerstandskämpfer Werner Seelenbinder, ließ ihn im Anschluss daran eine Ausbildung zum Elektromonteur beginnen. Eigendorf brach jedoch vorzeitig ab, die Fußball-Karriere ging vor, und er war nebenbei als Zivilist für die Volkspolizei beim BFC Dynamo aktiv. In der Saison – die Deutschen sagen „Spielzeit“ dazu – 1974/75 war es dann endlich soweit. Das Debüt in der Kampfmannschaft des Berliner FC Dynamo stand für den nun 18-jährigen Lutz Eigendorf an. In der Zeit von Herbst 1974 bis zum März 1979 absolvierte Eigendorf 100 Oberligaspiele für den BFC. Kurios dabei war, dass sein erstes und just sein letztes Spiel gegen den BSG Sachsenring Zwickau war. Gegen die „Alten Sachsen“ traf er beim 10 : 0-Kantersieg einmal, in Summe stehen sieben Tore für den BFC in der Oberliga zu Buche.
Flucht in den Westen
Im Jahre 1979, nach 30 Bestandsjahren der DDR, war an eine Flucht in den Westen nicht zu denken. Dennoch spielte Lutz Eigendorf mit dem Gedanken, einfach zu verschwinden. Prominente Vorbilder gab es für ihn bereits im Jahre 1976: Mittelfeldspieler Norbert Nachtweih (in der BRD unter anderem für SG Eintracht Frankfurt, FC Bayern München und SV Waldhof Mannheim aktiv) und Torhüter Jürgen Pahl (jahrelang bei Eintracht Frankfurt), sowie 1979 Jörg Berger (in der BRD für zahlreiche Vereine als Trainer überaus beliebt und erfolgreich) setzten sich von ihrer DDR-Delegation anlässlich eines deutsch-deutschen Sportverkehr-Gastspiels im Westen ab. So auch Lutz Eigendorf? Der BFC trat in der Pfalz beim 1. FC Kaiserslautern zu einem deutsch-deutschen Freundschaftsspiel an. So passierte im März des Jahres 1979. Die Ost-Berliner rechneten nicht mit der „Republik-Flucht“ einerihrer Spieler, da Nachtweih und Pahl dem HFC / Halleschen FC Chemie „abhanden“ gekommen waren und es den BFC-Spielern doch in der DDR an nichts fehlte. Aber der 23-jährige Lutz Eigendorf hatte einen Plan, und ein großes Ziel – und das hieß 1. Deutsche Bundesliga. Eigendorf unterhielt sich nach dem Match am Betzenberg mit einer Person, die sich als „Schleuser“ in den Westen herauskristallisieren sollte. Er fuhr mit der BFC-Mannschaft nach Gießen. Den anschließenden Einkaufsbummel in der hessischen Stadt nutzte er für seine Flucht. Ein Taxi stand bereit, Eigendort sprang hinein, der Wagen rauschte ab und er blieb im Westen.
Kaiserslautern in der Pfalz
Was folgte war ein wochenlanges, banges Warten, was nun passieren würde. Nun, es geschah vorerst nichts. Eigendorf hielt sich bei den Profis des 1. FC Kaiserslautern fit und war nach gut einem Monat im Kopf wieder frei, frei für neue sportliche Aufgaben im Westen. Gut, es geschah doch etwas: Eigendorf wurde von der FIFA für ein Jahr gesperrt. Die DDR-Oberen forderten allerdings eine zweijährige Sperre für Lutz Eigendorf, der als politisch zuverlässig galt. Man wollte ein Exempel statuieren. Dennoch, ein Jahr Sperre für einen 23-jährigen Fußballer, der als hochgelobtes Talent und als der „Franz Beckenbauer des Ostens“ galt – eine fürchterliche Zeit für einen jungen Aktiven, der voller Tatendrang und fit ist, Fußballspielen will, es aber nicht darf. Eigendorf trainierte emsig mit der Mannschaft des 1. FCK, fühlte sich aber als „Gesperrter“ naturgemäß nicht dazugehörig. Dann die Idee der Vereinsleitung. Eigendorf soll die B-Jugend der Pfälzer trainieren. Der DDR-Flüchtling war überglücklich, sah für sich und sein Tun wieder einen Sinn und saß die Sperre ab. Ebenso stellten ihm die Pfälzer einen Arbeitsplatz im Sekretariat zur Verfügung. Dann endlich sein Debüt in der Deutschen Bundesliga: am 11. April 1980 beim 4 : 1-Erfolg über den VfL Bochum. Eigendorf kam bis zum Saison-Ende 1981/82 auf 65 Spiel für den 1. FC Kaiserslautern, 53 davon absolvierte er in der Bundesliga.
Braunschweig in Niedersachsen
Im Sommer 1982 folgte der Wechsel nach Braunschweig, in die Stadt Heinrichs des Löwen. Im Unterschied zum 1. FCK-Coach Karl-Heinz „Kalli“ Feldkamp, der Eigendorf nicht verpflichtete, sondern als Flüchtling lediglich „vorgesetzt“ bekam, verhielt es sich bei Uli Maslo, Trainer beim BTSV Eintracht Braunschweig anders. Dieser kannte und schätzte die Eigenschaften Eigendorfs und wollte den durchtrainierten und athletischen DDR-Fußballer außer Dienst sehr wohl in seinen Reihen wissen. Erschwerend kam hinzu, dass Eigendorf seit Kaiserslautern eine hartnäckige Achillessehnenreizung mit sich herumschleppte, die ihn nun an der Hamburger Straße in Braunschweig verletzt zusehen ließ. Eigendorf kam bis einschließlich Samstag, 26. Februar 1983, lediglich auf 8 Bundesligaspiele für Eintracht Braunschweig.
Samstag, 5. März 1983
Die Eintracht lädt zum Heimspiel gegen den VfL Bochum. Ein Wink des Schicksals? In der DDR war es die BSG Sachsenring Zwickau, gegen die Eigendorf sein erstes und letztes von 100 DDR-Oberligaspielen bestritt. Sollte der VfL aus Bochum abermals zu (s)einem Schicksal werden? Bekanntlich waren es die West-Deutschen, gegen die Eigendorf im Jahre 1980 erstmals in er BRD für den 1. FC Kaiserslautern auflief. Nun, die Sache kam anders. Eigendorf stand – wider Erwarten – nicht in der Stammformation für das Bundesligaspiel, sondern saß nur auf der Bank. Seine Braunschweiger „Löwen“ verloren sang und klanglos zu Hause mit 0 : 2. Nach dem Spiel trafen sich die Eintracht-Fußballer in ihrem Stamm-Beisl. Eigendorf war mit von der Partie und schnappte in der Erinnerung einiger Mitspieler zwei, drei Gläschen Pils. Dann rauschte er ab.
Das Ende eines Traums
Im Polizeibericht hieß es, dass ein schwarzer Alfa Romeo GTV im Braunschweiger Stadtteil Querum gegen 23 Uhr von der regennassen Fahrbahn abkam und ungebremst gegen einen Baum prallte. Der nicht angeschnallte Fahrer, der als Lutz Eigendorf, Fußballprofi von Eintracht Braunschweig legitimiert wurde, kam im Kopf- und Brustbereich schwerverletzt ins Unfallkrankenhaus. Am Weg dorthin erhielt er im Rettungswagen bereits seine ersten Infusionen. Am Montag, 7. März 1983 verstarb Lutz Eigendorf 26-jährig an den Folgen eines von ihm und ohne Fremdeinwirkung versursachten Verkehrsunfalls. Die Sachlage schien klar und kam zu den Akten. Die Art und Weise des tragischen Ablebens von Lutz Eigendorf geriet in Vergessenheit.
Die Mauer muss weg
Das, was die Jugend der DDR jahrelang erträumt, besungen und erhofft hatte, geschah doch tatsächlich unmittelbar nach den Feierlichkeiten zu „40 Jahre DDR“. Am 9. November 1989, die SED stimmte einem neuen Reisegesetzt für ihre DDR-Bürger zu, öffnete sich wie von Geisterhand und völlig unbürokratisch nach einer abendlichen TV-Ankündigung samt ungewolltem Versprecher von DDR-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski der Schlagbaum am Grenzübergang Bornholmer Straße zu Berlin-Ost – und in späterer Folge nicht nur dort. Die seit den Augusttagen des Jahres 1961 durch eine Mauer getrennte Stadt Berlin war wieder zur Einheit geworden. Aus Ost und West lagen sich die Menschen zu Tränen gerührt in den Armen. Man saß, sang und feierte gemeinsam und Hand in Hand auf der Berliner Mauer.
Die DDR wird zur Geschichte
Spätestens seit der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wurde die DDR zur Geschichte. Das Staatenkonstrukt, das 1949 als Pufferzone zwischen dem Kommunismus der Sowjetunion und dem kapitalistischen Werteverständnis des Westens stand, sollte lediglich einen sehr geringen Teil in der Weltgeschichte für sich beanspruchen dürfen. Die Jahre von 1949 bis 1989/90 hatten es aber in sich: Bespitzelung, Denunziantentum, Flucht, Angst, Verfolgung, bis hin zur Ermordung. Bürger, die sich auflehnten und gegen das Regime agierten, hatten es wahrhaft nicht leicht in Deutschland-Ost.
Tod dem Verräter
20 Jahre nach dem tragischen Ableben von Lutz Eigendorf, nahm sich Historiker Herbert Schwan der Sache an und rollte den „Fall Eigendorf“ in Eigenregie neu auf. Schwan recherchierte und kam zu dem Schluss, dass die Stasi, die Staatssicherheit der DDR, hinter diesem „Unfall“ gesteckt haben muss. Eigendorf wurde dem Vernehmen nach von DDR-Agenten nach dem Verlassen der Braunschweiger Stammkneipe gekidnappt, es wurden ihm gegen seinen Willen in Verbindung mit weiterem Alkohol giftige Substanzen verabreicht und der völlig verunsicherte Sportler dann im rasanten PKW auf sich allein gestellt „nach Hause entlassen“. Die Aufputschmittel erreichten ihre Wirkung und der „Verräter“ wurde „verblitzt“. In der DDR verstand man unter diesem Begriff die Tatsache, durch plötzliches Aufblenden eines in Position gebrachten Fahrzeuges den Wagen auf der Gegenseite zu blenden und somit in weiterer Folge zum Unfall zu bewegen. Herbert Schwan kam zu dem Schluss, dass es bei Eigendorf so passiert sein muss. Nach der Wende rollte die Staatsanwaltschaft den Fall neu auf, kam aber aufgrund einsilbig agierender oder nicht erschienener Vorgeladenen zu dem Schluss, dass es keine objektiven Hinweise auf ein Fremdverschulden im speziellen Fall von Lutz Eigendorf gibt. Der Fall wurde 2011 zu den Akten gelegt und das Kapitel Lutz Eigendorf, „verblitzt“, oder „verunfallt“ ist somit geschlossen.
In Memoriam
In der Wahrnehmung haften bleiben soll jedoch die Erinnerung an einen jungen Menschen, an den nur knapp 27 Jahre alt gewordenen Lutz Eigendorf, einen talentierten Fußballer aus dem damaligen Ost-Berlin, der seine Träume leben wollte, diese im Westen sah und sich dafür auf ganz dünnes Eis gewagt hatte. Wie und warum dieses Eis dann brach, das wird sich wohl nie mehr ganz genau aufklären lassen …
Quelle: Redaktion www.oepb.at
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