Die Schachtel, in der die Fotos der Juden und Jüdinnen aus Tarnów aufbewahrt und gefunden wurden, ist im HdGÖ erstmals im Original zu sehen. Foto: © Wolfgang Reichmann, Naturhistorisches Museum Wien

Das Haus der Geschichte Österreich (HdGÖ) rückt mit einer neuen Ausstellung im Vorfeld des Tages der Befreiung am 8. Mai 1945 österreichische Täter*innengeschichte, Opferschicksale und die Auseinandersetzung mit NS-Verantwortung in den Mittelpunkt: Von 5. Mai bis 14. November 2021 ist „Der kalte Blick. Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnów“ imhdgö zu sehen. Die Ausstellung, entstanden als Kooperation zwischen dem NHM / Naturhistorischen Museum Wien, der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topographie des Terrors, wird erstmals in Österreich gezeigt.

In der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien entdeckt die Kuratorin Margit Berner im Jahr 1997 eine Schachtel mit der Aufschrift „Tarnow Juden 1942“. Enthalten sind darin Fotografien von jüdischen Familien. Die Fotos sind Teil eines Projekts zur Erforschung „typischer Ostjuden“, das die Wiener Wissenschaftlerinnen Dora Maria Kahlich und Elfriede Fliethmann im März 1942 in der deutsch besetzten südpolnischen Stadt Tarnów durchführen. Mit kaltem Blick untersuchen und fotografieren sie „rassenkundlich“ mehr als hundert jüdische Familien, insgesamt 565 Männer, Frauen und Kinder. Von diesen überleben nur 26 den Holocaust und können später davon berichten.
 
In jahrelanger Forschung gelang es, die Fotos durch verstreute Aufzeichnungen und umfangreiche Archivrecherchen namentlich zuzuordnen und die Todes- sowie Lebenswege der Portraitierten zu rekonstruieren. „Der kalte Blick“ erzählt vom Leben der Jüdinnen und Juden in Tarnów vor 1939 und von deren Ermordung – als einem Beispiel unter Hunderten für die Verfolgung und Vernichtung jüdischer Gemeinden in Polen. Zentral wird aber auch das ehrgeizige Vorgehen der beiden jungen österreichischen Anthropologinnen thematisiert, die durch die kriegsbedingte Abwesenheit ihrer männlichen Kollegen Karriere machen konnten.

Die von Publikum und Kritik hochgelobte Ausstellung war bis April in der „Topographie des Terrors“ in Berlin zu sehen. Das hdgö zeigt sie auf dem Alma Rosé-Plateau der Neuen Burg: Diese Fläche hat das Museum vorrangig dem Holocaust und seinen Nachwirkungen gewidmet. Erstmals zu sehen ist das Original jener Schachtel, in der die Anthropologin Dora Maria Kahlich die durchnummerierten Fotos aufbewahrte (siehe Foto). Die Feldpostkiste mit der Aufschrift „Tarnow Juden“ hatte zuvor offenbar eine andere Verwendung: Darauf verweist die Notiz „Für mein Haserl“ in der Handschrift der Wissenschaftlerin – vermutlich war damit ihr Mann Herbert Kahlich gemeint, der 1944 an der Front starb.

Österreich hat lange Zeit eine Opferrolle eingenommen, ein Umdenken begann erst in den späten 1980er Jahren. Eine breite öffentliche Diskussion zur Rolle von österreichischen Täterinnen und Tätern im Nationalsozialismus fehlt jedoch bis heute. In diesem Fall sind es zwei Wiener Wissenschaftlerinnen, die sich von ihren rassistischen Forschungen Chancen erhofften und die NS-Rassenideologie zum persönlichen Karriere-Vorteil nützten. Wir sehen diese Ausstellung als wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Verantwortung Österreichs an den Verbrechen des NS-Regimes“, so hdgö-Direktorin Monika Sommer.
 
Die Ausstellung ist nicht nur eine Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, sie ist auch ein Aufruf an die Wissenschaft, Position zu beziehen und unterschwellige Vorurteile zu identifizieren. Speziell die Anthropologie als umkämpftes und nach vielen Seiten offenes Forschungsfeld bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen naturwissenschaftlicher Exaktheit von Messdaten und deren Interpretation durch unterschiedliche Akteure über einem Abgrund aus Vorurteilen und unreflektierten Erfahrungen. Lassen Sie uns diese Ausstellung zum Anlass nehmen, der Opfer zu gedenken und den Mechanismen in der Gesellschaft, aber auch in der Wissenschaft, vorzubeugen, die uns davon abhalten, uns als eine globale Gemeinschaft von Menschen zu begreifen, die die Herausforderungen unserer Zeit meistern müssen“, bekräftigt NHM Wien-Generaldirektorin Katrin Vohland.

Zur Ausstellung

Deutsche und österreichische Tätergruppen, die in Tarnów eingesetzt wurden, erhalten in „Der kalte Blick“ ein besonderes Gewicht. Dabei werden die Täterinnen und Täter jedoch immer den Berichten der Überlebenden, den Fotos und Lebensgeschichten der von ihnen Verfolgten und Ermordeten gegenübergestellt. In einem Kubus, dem „Archiv der Bilder“, zeigt die Ausstellung alle Fotografien der 106 Familien. In einer Medienstation sind die Kurzbiografien der Familien abrufbar, eine Tafel listet die „Statistik des Todes“ auf.  
 
Von 76 Familien fand sich kein Hinweis, dass ein Familienmitglied nach dem Krieg noch am Leben war, und von knapp der Hälfte auch keine Spur in der großen Opferdatenbank von Yad Vashem. Niemand konnte nach 1945 mehr mitteilen, dass sie ermordet worden waren. Von den allermeisten Ermordeten sind die anthropometrischen Portraits, die in einer Situation der Bedrohung und des Zwangs aufgenommen wurden, die letzten und fast immer die einzigen noch erhaltenen Fotos.
 
Die zweisprachige Ausstellung (deutsch-englisch) entstammt einem Kooperationsprojekt zwischen dem NHM Wien, der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topographie des Terrors. Kuratoren der Ausstellung sind Margit Berner (NHM Wien), Ulrich Baumann (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas), Stephanie Bohra (Stiftung Topographie des Terrors) und der Historiker Götz Aly.

Eröffnung

Die virtuelle Eröffnung der Ausstellung ist am 4. Mai 2021 ab 18 Uhr online auf der Webseite des hdgö zu sehen
 
Am 8. Mai 2021 bietet das hdgö anlässlich des Tages der Befreiung freien Eintritt ins Museum.

Quelle: Haus der Geschichte Österreich / HdGÖ

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Das Haus der Geschichte Österreich (HdGÖ)  

Das Haus der Geschichte Österreich ist das erste zeitgeschichtliche Museum der Republik und organisatorisch an die Österreichische Nationalbibliothek angebunden. Angesiedelt am geschichtsträchtigen Heldenplatz in der Neuen Burg, bietet das HdGÖ in seinen Ausstellungen Einblicke in die wichtigsten politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts bis ins Heute. Außergewöhnliche Objekte, teils noch nie gezeigte Dokumente und interaktive Medienstationen machen Zeitgeschichte für Klein und Groß erlebbar – in historischen Räumen mit zeitgemäßer Architektur und Gestaltung.  Viele Fragen und Themen der österreichischen Zeitgeschichte mit Blick auf Gegenwart und Zukunft werden in Themenführungen, Workshops und Veranstaltungen diskutiert. Für alle, die unterwegs oder zu Hause neugierig auf Geschichte sind: Eigene Web-Ausstellungen, aktuelle Schwerpunktthemen und interaktive Bildersammlungen bieten unter www.hdgoe.at immer wieder Neues aus der Vergangenheit.

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