Die Männer der Nachtschicht gingen am Heiligen Abend 1953 wie stets an ihre Arbeit. Merkwürdig genug dabei war ja, dass der Hochofen sich um nichts kümmerte, ob Weihnachten war oder nicht. Nachdem er nun einmal angeblasen war, brauchte er sein Futter bei Tag und Nacht und ständig mussten Männer bereit sein und ihm helfen, der immerzu drängenden Last ledig zu werden. Seine Mahlzeiten aus Erz und Kohle, ebenso seinen Atem, den heißen Wind, bekam er automatisch, wiewohl auch dazu einige, wenn auch unsichtbare Leute gehörten; doch die Höllenbäche des Eisens und der Schlacke mussten ihm von Arbeitern abgezapft werden. 

Am Bühnengeländer stand Friedrich, der nunmehr schon acht Jahre am Hochofen beschäftigt war. Sinnend starrte er hinab auf die Schienenstränge, die durch die spärlich erhellte Dunkelheit heraufblinkten. Mehr und mehr war die Hütte Linz zur Ruhe gekommen, eine Stimme nach der anderen war aus dem tosenden Konzert gefallen, das ferne Krachen der Walzen, das gewitterhafte Poltern der Konverter, das Brummen der Motoren. Nun war nichts mehr zu hören als das dumpfe Heulen des Gebläsewindes in den dicken Rohrleitungen.

Friedrich, den alle im Werk ohnehin nur Fritz riefen, blickte, über das Geländer gelehnt, wieder nachdenklich hinab auf die gleißenden Schienen. Nach einer Weile richte er sich auf und klapperte auf seinen halbverbrannten Holzschuhen an den Apparatestand, wo er auf den Instrumenten nachsah, wie weit die „Suppe“ im Ofen gediehen sein mochte.  

Die anderen Betriebe waren still und dunkel. Hin und wieder gingen ein paar Nachzügler unter der Bühne her. „Frohe Weihnachten!“ riefen sie herauf und winkten mit der Hand. Es war seltsam zu denken, dass schon die große feierliche Nacht angebrochen war. Fernher aus der Linzer Stadt kamen auf eisigem Wind Glockentöne herübergeritten und mischten sich in die Gedanken. In den Häusern brannten die Christbaumkerzen, die Kinder sangen, und ihre Augen hatten einen stillen Glanz. In den Stuben war der heimselige Duft von Nadelholz und frischem Backwerk. Hier roch es nach Phosphor, nach Kohlenoxyd und Schwefel und bedrängte die Brust. „Abstich!“ wurde ausgerufen, und die Männer am Hochofen machten sich bereit.

Sie ergriffen eine der langen, dicken Eisenstangen, die bereit lagen, und begannen mit gewaltigen Stößen, unter rhythmischem Hau-Ruck, die harte, verkrustete Masse aufzustoßen, mit der das Ofenmaul verstopft war. Durch den Angriff der langen dicken Eisenstangen rann ein goldgelbes Rinnsal aus dem Stichloch, das rasch zu einem flinken Bächlein anwuchs und mit feuerheißem Atem durch die Sandrinnen der Bühne floss. 1.500 Grad Celsius gleißte die dünnflüssige Lava dahin, belichtete taghell die Bühne und räucherte die Luft mit scharfen Gasen. An der „Brücke“ schied sich der Bach nach Eisen und Schlacke, und so floss jedes seinen vorgeschriebenen Weg bis an den Rand der Bühne, wo sie hinunterstürzten in große, feuerfeste Kübel, die auf den Schienen bereitstanden. Die Gesichter der Männer glänzten von klebrigem Schweiß, schützend hielten sie die Arme vor die Augen.

Als der Bach zu versickern begann, zogen sie sich zurück. Ein kleiner Wind schleuderte die letzten Eisen- und Schlackentropfen aus dem Ofen, dass sie wie Feuerregen über die Bühne stoben. Als der Regen aufhörte, wurde der Wind aufs Neue abgestellt, die Stopfmaschine herumgeschwenkt und die noch weiche Stopfmasse mit dumpfen, harten Schlägen in das Ofenmaul getrieben. Dann heulte der Wind in den Leitungen wieder auf, zwei Atmosphären und 700 Grad Celsius. Der Ofen begann aufs neue, Eisen zu machen.

Hans, der eine der Schichtarbeiter, der mit einer Erkältung umherlief, hatte einen neuen Arbeitsschal bekommen; den wickelte er sich jetzt um den Hals. Auch bei den anderen war vor der Schicht Bescherung gewesen, und sie hatten etliche der guten Sachen mit an den Ofen gebracht. Fritz kam mit einer frischen Zigarrenkiste. Liebevoll und bedächtig schnitt er mit dem Taschenmesser die Banderole auf, löste umständlich den Nagel aus dem Holz, hob mit aller Behutsamkeit seiner schweren Hände die beiden Papierlagen ab und reichte rundum. Es war seltsam, am Hochofen zu stehen und dicke Zigarren zu rauchen.

Noch seltsamer aber war, dass alle es als etwas Selbstverständliches hinnahmen, ohne Bemerkung oder selbstverspottendes Gewitzel. Schweigend, wie es hier Gewohnheit war, standen sie im Knäuel beisammen und bliesen den Rauch kunstvoll und andächtig in die Dunkelheit der Weihnachtsnacht. Auf den Gesichtern träumte Stille und Güte, gar etwas wie Glück. Selbst der Heinz, ein Raufbold und Draufgänger vor dem Herrn, der erst gestern gemeint hatte, die ganze Weihnacht sei nichts als ein wehleidiger Klimbim und fauler Zauber, gerade gut für Kinder und alte Weiber, selbst er war merkwürdig verwandelt, die trutzige Wildheit des Gesichts schien besänftigt und gestillt.

Fritz kletterte nun die schmalen Treppen hinauf, die im Zickzack an der Außenmauer vorbei zur Gicht hinaufführten, der Zinne des Hochofens, wo er ununterbrochen sein Futter empfing. Angelangt auf dem flachen Dach vergewisserte er sich zunächst, woher der Wind kam, denn schon mancher war von entweichenden Gasen umgeworfen worden.

Schattenhaft, fast gespenstig, schwebten am Schrägaufzug die großen Kübel herauf, abwechselnd Erz und Koks. Gelassen setzen sie sich, als hätten sie Verstand, auf den noch geschlossenen Teller des Gichtlochs, entleerten mit dumpfen Poltern ihre gewaltigen Bäuche, schwebten rasselnd in die Höhe und fuhren gemächlich wieder ihren schrägen Weg hinab auf die Hüttensohle. Kein Mensch war zu sehen, der sie betätigte, der ihnen Auftag und Antrieb hätte geben können.

Unter dem Blick von Fritz breitete sich, dunkel und unübersehbar, das nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererstandene Werk der VÖEST (Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke) in Linz. Fast unheimlich, nicht unähnlich einem Fabeltier, wuchs das düstere Gewirr seiner Hallen und Gerüste, seiner Türme und Essen in die Nacht. Nur vereinzelt brannten Lampen im Kampf mit der Dunkelheit. Wie kleine, glitzernde Punkte hingen sie verstreut umher.

Da löste sich aus dem Häusermeer der fernen Stadt Linz ein Glockenschlag. Einsam, ein wenig zitternd, kam er durch die klare Luft hergeflogen. Rasch gesellte sich ihm eine zweite Stimme, eine dritte und vierte zu, und in wenigen Augenblicken umtönte ihn ein vielstimmiger Chor. Deutlich war zu fühlen, dass er zu dieser Stunde die ganze Erde mit der festlichen Botschaft der Mitternacht erfüllte. Fritz kletterte die Treppe zu seinen Kameraden wieder hinunter. Drunten auf der Ofenbühne ging jeder von Mann zu Mann, drückte die Hände und man wünschte sich „Gesegnete Weihnachten!“ Dann packten sie gedankenverloren ihre Geräte und nahmen bis zum Morgengrauen wieder ihre Arbeit auf …

Gedanken eines Hüttenarbeiters aus dem Werk Linz

Es liegt uns Hüttenarbeitern fern, uns in theoretischen vorweihnachtlichen Gesprächen zu ergehen. Die Dinge, die wir mit unserer Hände und unseres Geistes Arbeit schaffen, sind sehr realer Natur und verbannen das Träumen sehr rasch aus dem Bereich des Alltages.

Und wenn die Männer aus dem Werk mit ihren Frauen durch die festlich geschmückten Geschäftsstraßen von Linz bummeln, um letzte Vorbereitungen für das Fest treffend noch diese oder jene Geschenke für den Gabentisch einzukaufen, dann geht auch das sehr nüchtern, sehr sachlich vor sich. Wenn nicht die Kinder wären, die in diesen Tagen mit den Inhabern der Spielzeuggeschäfte sozusagen auf Du und Du stehen, dann würde man vielleicht überhaupt nicht merken, welche Tage der Kalender anzeigt. Man rechnet, plant, man besorgt, man ist sehr, sehr beschäftigt.

Zwischendurch ruft unerbittlich die Schicht und auch die zaghaftesten Gedanken an Christbaum und Tannenzapfen verblassen dabei. Manche von uns werden sogar unwirsch, kommt man ihnen mit „Gedanken weihnachtlicher Einkehr“ und dem Hinweis, das „Fest der Besinnlichkeit“ steht vor der Tür.

Aber wir sollten uns ruhig eingestehen, dass wir vor zehn, zwölf Jahren, als wir Soldaten waren oder im Fliegeralarm auch auf Schicht gehen mussten, sehr viel darum gegeben hätten, Weihnachten einmal so wie dieses Jahr zu feiern, wie wir uns anschicken, es heuer zu begehen. Gewiss, manche Sorge bedrückt uns, und doch, wir können es nicht leugnen, steht Weihnachten 1953 als eine Weihnacht des Friedens vor uns.

Und wir sollten uns nicht schämen, ein wenig Dankbarkeit zu bekennen, ein wenig Dankbarkeit dafür, dass die Weihnacht 1953 in unserem Heimatland Österreich in Frieden und Freiheit begangen werden kann …

Quelle und Fotos: aufgezeichnet vom seinerzeitigen www.oepb.atInhaber Erwin H. Aglas zu Weihnachten 1953 im Werk Linz der VÖEST

www.voestalpine.com

www.linz.at

www.linztermine.at

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