Zum 80. Jahrestag der ersten reichsweiten Deportationstransporte im Oktober 1941 thematisiert eine Outdoor-Ausstellung die Rolle Wiens als Motor der Radikalisierung des Antisemitismus im NS-Staat. Präsentiert wird die Schau vom Haus der Geschichte Österreich (HdGÖ) in Kooperation mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien sowie dem Verein zur Förderung kulturwissenschaftlicher Forschungen. Sie ist von 15. Oktober bis 10. Dezember 2021 frei zugänglich auf dem Heldenplatz zu sehen. Foto: © Lorenz Paulus / HdGÖ

Auf dem zentralen Platz der Republik zeigt die Freiluft-Ausstellung – kuratiert von Michaela Raggam-Blesch, Heidemarie Uhl und Isolde Vogel – das System der Entrechtung, Enteignung, Vertreibung und Vernichtung der österreichischen Jüdinnen und Juden. Hier entwickelte die 1938 von Adolf Eichmann eingerichtete „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ im Jahr 1941 das organisatorische Modell der Deportationen in die Ghettos, Vernichtungslager und Mordstätten. Es wurde zum Vorbild für die Deportationen aus dem gesamten Deutschen Reich. Nach fünf ersten Transporten aus Wien im Februar und März 1941 begannen vor 80 Jahren, am 15. Oktober 1941, die reichsweiten Deportationen. Diese Vorgänge thematisiert „Das Wiener Modell der Radikalisierung. Österreich und die Shoah“. Gezeigt werden auch jüdische Selbsthilfe und der mutige Widerstand Einzelner. Ebenso wird das Schweigen über die Shoah im Nachkriegsösterreich beleuchtet, das den Tätern zugutekam.
 
„Antisemitismus – und auch Rassismus – gehören leider noch immer nicht der Vergangenheit an. Der Antisemitismus in der NS-Zeit führte zur Ermordung von Millionen Menschen in Auschwitz und anderen Vernichtungsorten. Wir wollen gerade hier, auf dem Heldenplatz, mit dieser Ausstellung und den Vermittlungsangeboten im Haus der Geschichte Österreich ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen und Bildungsmaßnahmen niederschwellig zugänglich machen“, sagt hdgö-Direktorin Monika Sommer.

Bundesministerin Karoline Edtstadler betont anlässlich der Eröffnung der Ausstellung: „Österreich trägt eine historische Verantwortung beim Gedenken und Erinnern an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Aus dieser Verantwortung ergibt sich unsere Pflicht als Republik, uns die unfassbaren Taten des NS-Unrechtsregimes immer wieder vor Augen zu führen. Wir alle sind gefordert, die Erinnerung hochzuhalten und gemeinsam aus vollster Überzeugung dafür zu sorgen, dass so etwas sich niemals wiederholt.“

Denn, so Edtstadler weiter: „Das Thema Antisemitismus ist leider aktueller, denn je: Die Corona-Pandemie bildet einen Nährboden für antisemitische Verschwörungstheorien, die sich insbesondere im Internet rasch verbreiten. Mit zahlreichen Maßnahmen, wie beispielsweise dem Kommunikationsplattformen-Gesetz, dem österreichisch-jüdischen Kulturerbe-Gesetz und nicht zuletzt der nationalen Strategie gegen Antisemitismus mit 38 Maßnahmen haben wir bereits wichtige Schritte in diesem Bereich gesetzt. Damit war Österreich eines der ersten Länder in der Europäischen Union und wird seine Erfahrungen gerne auch weiterhin auf europäischer Ebene einbringen.“

Der „Anschluss“, Flucht und erzwungene Auswanderung

Österreich wird gleich nach dem „Anschluss“ im März 1938 zum Experimentierfeld für die antisemitische Politik des Nationalsozialismus. Denn noch bevor die antijüdischen Maßnahmen des NS-Regimes in Wien greifen, sind Jüdinnen und Juden pogromartigen Übergriffen, Demütigungen und Misshandlungen ausgesetzt. Die gewaltsamen Ausschreitungen in Wien und anderen österreichischen Städten bewirken eine Radikalisierung des Antisemitismus und eine Verschärfung judenfeindlicher Maßnahmen des NS-Regimes im gesamten Deutschen Reich.
 
Jüdische Geschäfte und Betriebe werden enteignet, Jüdinnen und Juden werden entlassen, erhalten Berufsverbot, ihre Mietverträge werden gekündigt. Ab Mai 1938 müssen jüdische Kinder die öffentlichen Schulen verlassen. Der Zugang zu Parks, Theatern, Kinos, Gaststatten ist verboten, das Haus darf ab 20 Uhr nicht verlassen werden. Zwischen 1938 und 1941 können mehr als 130.000 jüdische ÖsterreicherInnen flüchten. Anfang 1941 leben in Wien nur noch rund 61.000 Menschen, die nach Definition der nationalsozialistischen „Rassengesetze“ als Jüdinnen und Juden gelten. Die jüdische Bevölkerung ist völlig verarmt, Jüdinnen und Juden haben kaum Einkommensmöglichkeiten.

Die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ als Schaltstelle

Die Wiener „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ wird 1938 von Adolf Eichmann als neue NS-Behörde aufgebaut. Ihr Ziel ist die systematische Vertreibung und Beraubung der jüdischen Bevölkerung. Nach Wiener Vorbild werden Zentralstellen in Berlin (1939), Prag (1939) und Amsterdam (1941) eingerichtet.
 
Im Oktober 1940 bringt der Wiener Gauleiter Baldur von Schirach bei Adolf Hitler seinen Plan vor, Wien als erste Großstadt im Deutschen Reich „judenfrei“ zu machen. Im Februar 1941 beginnen die systematischen Deportationen aus Wien. Die Wiener „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ wird zur Schaltstelle für die Durchführung der Transporte. Geleitet wird sie von SS-Obersturmführer Alois Brunner, Nachfolger Adolf Eichmanns in dieser Funktion. Die SS-Männer der „Zentralstelle“ sind verantwortlich für die Durchführung von 45 Transporten zwischen 15. Februar 1941 und 9. Oktober 1942, bei denen mehr als 45.600 Menschen vom Aspangbahnhof in die Ghettos, Vernichtungslager und Mordstätten im „Osten“ deportiert werden. Die SS-Männer der „Zentralstelle“ gehen dabei mit äußerster Brutalität vor. Als die Wiener „Zentralstelle“ nach dem Ende der großen Deportationen im März 1943 aufgelöst wird, werden die „Eichmann-Männer“ als „Deportations-Experten“ in ganz Europa eingesetzt.

Reichsweite Deportationen

Im Oktober 1941 beginnen die reichsweiten Deportationen der jüdischen Bevölkerung. Der erste Transport mit 1.000 österreichischen Jüdinnen und Juden geht am 15. Oktober 1941 vom Wiener Aspangbahnhof in das Ghetto Litzmannstadt/Łódź. Bis Oktober 1942 folgen 39 weitere Transporte aus Wien. Der Großteil der Menschen kommt mit 13 Transporten nach Theresienstadt (knapp 13.800 Personen). Rund die Hälfte von ihnen wird zwischen August 1942 und Oktober 1944 weiter nach Auschwitz und in andere Vernichtungsorte wie Maly Trostinec, Sobibór und Treblinka überstellt und ermordet. Neun Transporte aus Wien gehen direkt an den Vernichtungsort Maly Trostinec (rund 8.500 Personen), die Deportierten werden hier bis auf wenige Ausnahmen unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet. Weitere Transporte haben Riga, Minsk, Izbica, Sobibór, Kowno/Kaunas und Włodawa zum Ziel.
 
Nach dem Ende der großen Deportationen im Oktober 1942 verbleiben noch rund 8.000 Menschen in Wien, die nach den Nürnberger „Rassengesetzen“ als jüdisch gelten.

„Das Wiener Modell der Radikalisierung. Österreich und die Shoah“

Die Outdoor-Ausstellung ist von 15. Oktober bis 10. Dezember 2021 auf dem Heldenplatz neben dem Äußeren Burgtor kostenfrei zu sehen. Kuratorinnen sind Michaela Raggam-Blesch, Heidemarie Uhl und Isolde Vogel. Die Ausstellung des Hauses der Geschichte Österreich ist in Kooperation mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften / Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte und dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien sowie dem Verein zur Förderung kulturwissenschaftlicher Forschungen entstanden.

9. November: Aktionstag gegen Antisemitismus mit Kuratorinnen-Führungen

Bildung ist die beste Prävention: Deshalb organisiert das HdGÖ den ersten „Aktionstag gegen Antisemitismus“ am 9. November 2021, dem Jahrestag der Pogromnacht. Für Interessierte werden um 9, 13 und 15 Uhr Kurzführungen mit den Kuratorinnen der Ausstellung am Heldenplatz angeboten, Anmeldung ist nicht notwendig. Weitere Themenführungen finden im Haus der Geschichte Österreich in der Neuen Burg statt. Für Schulklassen wird von 9-18 Uhr ein breites Programm an Führungen und Workshops angeboten, die ab sofort unter vermittlung@hdgoe.at buchbar sind. Das volle Programm gibt es unter 
 
Weitere Informationen zur Ausstellung
https://www.hdgoe.at/wiener_modell_der_radikalisierung

Quelle: HdGÖ

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Das Haus der Geschichte Österreich (HdGÖ)  

Das Haus der Geschichte Österreich ist das erste zeitgeschichtliche Museum der Republik und organisatorisch an die Österreichische Nationalbibliothek angebunden. Angesiedelt am geschichtsträchtigen Heldenplatz in der Neuen Burg, bietet das HdGÖ in seinen Ausstellungen Einblicke in die wichtigsten politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts bis ins Heute. Außergewöhnliche Objekte, teils noch nie gezeigte Dokumente und interaktive Medienstationen machen Zeitgeschichte für Klein und Groß erlebbar – in historischen Räumen mit zeitgemäßer Architektur und Gestaltung.  Viele Fragen und Themen der österreichischen Zeitgeschichte mit Blick auf Gegenwart und Zukunft werden in Themenführungen, Workshops und Veranstaltungen diskutiert. Für alle, die unterwegs oder zu Hause neugierig auf Geschichte sind: Eigene Web-Ausstellungen, aktuelle Schwerpunktthemen und interaktive Bildersammlungen bieten unter www.hdgoe.at immer wieder Neues aus der Vergangenheit.

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