Gebäudehülle der ehemaligen Synagoge in der Malzgasse 16. Foto: HdGÖ / Klaus Pichler
Gebäudehülle der ehemaligen Synagoge in der Malzgasse 16. Foto: HdGÖ / Klaus Pichler

Das Haus der Geschichte Österreich (HdGÖ) präsentiert ab 8. November 2019 noch nie gezeigte Fundstücke, die Anfang 2018 in Kellerräumen der Wiener Malzgasse 16 entdeckt wurden. An dieser Adresse befanden sich eine Thalmud-Thora-Vereinsschule (ab 1870) und eine Synagoge (ab 1904).

Das 1895 gegründete, erste Jüdische Museum der Welt zog ab 1912 in der Malzgasse 16 ein. In der Pogromnacht von 9. auf 10. November 1938 wurden die Schule und die Synagoge verwüstet, das Museum war schon zuvor geplündert worden. Die wechselvolle Geschichte der Malzgasse 16 erzählen nun die aus meterhohem Schutt geborgen Objekte.

Die Ausstellung „Nicht mehr verschüttet. Jüdisch-österreichische Geschichte in der Wiener Malzgasse“ wurde in Kooperation mit dem Israelitischen Tempel- und Schulverein Machsike Hadass konzipiert und umgesetzt und ist bis 19. April 2020 im HdGÖ zu besuchen.

„Die Kellerräume der Malzgasse 16 haben einen kulturhistorischen Schatz freigegeben. Auf wenigen Kubikmetern befand sich die komprimierte Geschichte eines besonderen Ortes. Stück für Stück wurden hier wertvolle religiöse Fundstücke neben architektonischen Kleinoden und Gegenständen aus dem Schulalltag freigelegt. Brandsätze zeugen vom gewaltvollen Ende des Lehrbetriebs. Jedes einzelne dieser mehr als 100 Objekte und Objektkonvolute erzählt Geschichten, die durch unsere Ausstellung ans Tageslicht kommen. Gemeinsam präsentiert vermitteln sie österreichisch-jüdische Geschichte auf einzigartige Weise!“, so Monika Sommer, Direktorin des HdGÖ.

Uhrenblatt mit römischen Ziffern, lateinischen und hebräischen Buchstaben, vor 1938. Foto: HdGÖ / Klaus Pichler
Uhrenblatt mit römischen Ziffern, lateinischen und hebräischen Buchstaben, vor 1938. Foto: HdGÖ / Klaus Pichler

Fundstücke erzählen Geschichten

Die Thalmud-Thora-Schule, gegründet 1870, sorgte sich von Beginn an um bedürftige Kinder. Im Jahr 1907 etwa wurde im Zuge des Schulneubaus auch eine Schulküche eingerichtet, in der für 80 Schulkinder aus ärmeren Verhältnissen Mittagessen gekocht wurde. Die Ausspeisung fand im ebenfalls neu eingerichteten Speisesaal statt. Die Kosten für den Mittagstisch wurden durch Spenden der Vereinsmitglieder gedeckt. Darüber hinaus erhielten Bedürftige auch Schuhwerk und Kleidung. Im Schutt fanden sich Lederschuhe für Frauen und Männer, kein Paar ist jedoch vollständig. Aus dem Küchenbetrieb wurden etliche Gegenstände entdeckt, wie Topfhandschuhe, Koch- und Essgeschirr, Esslöffel und Dessertlöffel sowie diverse Glasflaschen.

Vom Schulalltag zeugen sechs Tintenfässer: Schülerinnen und Schuler und Lehrerinnen und Lehrer hatten jeweils ein eigenes Tintenfass, auf das gut aufzupassen war. Sie steckten in der Schulbank oder in einem eigenen Behälter und wurden von der Schule stets wieder aufgefüllt. Bei der Schließung der Schule durch die Nationalsozialisten blieben diese Tintenfässer zurück und sind trotz der Verwüstung in der Nacht des Novemberpogroms unversehrt.

Innenansicht des Kellerraumes in der Malzgasse 16. Foto: HdGÖ / Klaus Pichler
Innenansicht des Kellerraumes in der Malzgasse 16. Foto: HdGÖ / Klaus Pichler

Alltagsgegenstände wie zwei Tassen aus Keramik, ineinandersteckend und mit Rasierzeug aus Naturhaar, oder ein beschädigter Puppenkörper aus Kunststoff sind Zeugnisse der jähen Unterbrechung des regen Lebens an diesem Ort. Aus dem Bestand des ehemaligen Jüdischen Museums wurde unter anderem eine Chanukka-Lampe, die während des achttägigen

Lichterfestes entzündet wird, entdeckt. Sie gehörte zur sogenannten Benies-Sammlung, die die Familie nach dem Tod von Heinrich Benies an das Museum verkaufte. Weshalb die Chanukka-Lampe im Sommer 1938 nicht von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurde, sondern in den Schutt gelangte, bleibt unklar. Fragmente von Grabsteinen und Gedenksteinen stammen ebenfalls aus dem ersten Jüdischen Museum. So spendeten zum Beispiel Theodor und Robert Adler im Mai 1907 zwei Steintafeln – eine in Hebräisch und eine in Deutsch – für ihre im Jahr zuvor verstorbenen Eltern Regine und Philipp Adler. Beide Tafeln waren wohl an der Rückwand der Synagoge in der Malzgasse 16 angebracht und zeugten den Gemeindemitgliedern vom Andenken der Kinder an ihre Eltern.

Zu den wenigen Überresten der ehemaligen Innenausstattung der Synagoge gehören drei Uhrenblätter mit römischen Ziffern, lateinischen und hebräischen Buchstaben. Zur religiösen jüdischen Praxis gehören drei Gebetszeiten am Tag, morgens, mittags und abends. Der Fund zeigt jene Zeiten, in denen sich Gläubige in der Malzgasse zum Gebet trafen: Ein Abdruck am großen Uhrenblatt kündigt das Morgengebet für zumeist 10 Uhr an, am kleinsten wird das Abendgebet nach Einbruch der Dunkelheit angezeigt.

Diverse Glasflaschen, darunter der Brauerei Hernals und der Brauerei Brunn am Gebirge, vor 1936. Foto: Machsike Hadass Wien, Israelitischer Tempel- und Schulverein.
Diverse Glasflaschen, darunter der Brauerei Hernals und der Brauerei Brunn am Gebirge, vor 1936. Foto: Machsike Hadass Wien, Israelitischer Tempel- und Schulverein.

Jähes Ende

Bereits am 18. Oktober 1938 verübten SA-Angehörige einen Brandanschlag auf das Gebäude Malzgasse 16, wobei auch Bestände des ersten Jüdischen Museums beschädigt wurden. Während des Novemberpogroms wurden die Schule und die Synagoge in Brand gesetzt. Zwei gefundene Wurfbrandsätze aus dem Oktober oder November 1938 sind Ausdruck von gewalttätigem Antisemitismus. Der Brandgeruch, der von den Objekten ausgeht, haftet auch 80 Jahre später noch an ihnen.

Nach der Pogromnacht von 9. auf 10. November 1938 änderte sich die Nutzung des Hauses. Von 1939 bis zum Frühjahr 1942 waren hier ein Siechenheim und ab Juni 1942 ein „Sammellager“ untergebracht. Von den Nationalsozialisten verfolgte Jüdinnen und Juden aus ganz Österreich mussten hier, auf engstem Raum und ihres Vermögens beraubt, auf die Deportation „in den Osten“ warten. „An dieser einen Adresse zeigt sich das wechselhafte jüdische Leben in Österreich in aller Deutlichkeit. Die Malzgasse 16 ist definitiv ein Ort von österreichweiter Bedeutung. All diese Fundstücke, die direkt aus dem Alltag jüdischen Lebens stammen oder schon damals wertvolle Ausstellungsgegenstände waren, sind stumme Zeugen des Novemberpogroms,“ so HdGÖ-Direktorin Monika Sommer weiter. Nach Abschluss der großen Deportationswelle im Herbst 1942 richtete die Kultusgemeinde hier ein Spital ein, das bis zu Kriegsende und darüber hinaus existierte.

 Verbrannte bzw. angesengte Teile von Büchern und Kalendern, vor 1938. Foto: HdGÖ / Klaus Pichler
Verbrannte bzw. angesengte Teile von Büchern und Kalendern, vor 1938. Foto: HdGÖ / Klaus Pichler

Nach dem Krieg konnte der Talmud-Thora-Schulverein wiederbegründet werden und die Liegenschaft wurde von der IKG an den Schulverein zurückgegeben. Im Jahr 1956 schließlich gelang auch die Wiedereröffnung der Schule. Somit ist die Malzgasse 16 heute jener Ort in Wien, an welchem ein und dieselbe jüdische Institution am längsten beheimatet ist, unterbrochen durch das NS-Terrorregime und ein Ort jüdisch-orthodoxen Glaubens und der jüdisch-orthodoxen Bildung. Hier befindet sich ein Kindergarten für Mädchen und Buben sowie eine Volks- und Neue Mittelschule mit Öffentlichkeitsrecht für Buben. Beide Einrichtungen werden vom Israelitischen Tempel- und Schulverein Machsike-Hadass geleitet. Auf der Suche nach mehr Platz für die Schule wurden Anfang 2018 die mit Abbruchmaterial aufgeschütteten Kellerräume entdeckt. Der Verein beschloss daraufhin, sie auf eigene Kosten auszugraben.

Kuratorin Birgit Johler: „Die Ausstellung ist nicht das Ende der Aufarbeitung der Malzgasse 16, sondern der Beginn. Sie setzt wichtige Impulse für eine weitere intensive Auseinandersetzung mit diesem Ort jüdisch-österreichischer Geschichte und ist auch Ausdruck der erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen dem Schulverein und dem Haus der Geschichte Österreich. Die Malzgasse 16 ist heute ein lebendiger Ort, daher war es mir besonders wichtig seine Geschichte nach 1945 und Entwicklung bis zur Gegenwart zu erzählen.“

Tintenfässer, von Schülern der Thalmund-Thora-Schule in der Malzgasse 16 verwendet. Hersteller: Firma P. Johannes Müller, Wien I. Foto: HdGÖ / Klaus Pichler
Tintenfässer, von Schülern der Thalmund-Thora-Schule in der Malzgasse 16 verwendet. Hersteller: Firma P. Johannes Müller, Wien I. Foto: HdGÖ / Klaus Pichler

Die Funde wurden professionell von Studentinnen und Studenten der Universität für Angewandte Kunst gereinigt, zu einzelnen Objekten konnte bereits geforscht werden.  Durch die erste wissenschaftliche Aufarbeitung der Fundstücke und die institutionenübergreifende Kooperation wurde bereits ein wichtiger Schritt gesetzt: Das Bundesdenkmalamt stellte die Objekte, die sich im Besitz des Schulvereins befinden, im Herbst 2019 unter Schutz und wird sie nach Ende der Ausstellung verwahren.

„Ich freue mich, dass es in Zusammenarbeit mit dem Haus der Geschichte Österreich gelungen ist, nicht nur die öffentliche Präsentation unserer Fundstücke zu realisieren, sondern auch einen ersten Schritt in Richtung eines „Gedenkortes Malzgasse 16“ zu setzen. Unser Ziel ist es, eine Möglichkeit zur dauerhaften Präsentation der Objekte und der Geschichte des Ortes zu schaffen und wir sind zuversichtlich, hier künftig breite Unterstützung zu erhalten,“ so Erwin Steiner, Obmann des Israelitischen Tempel- und Schulvereins Machsike Hadass.

Quelle: HdGÖ

Lesen Sie mehr über das Haus der Geschichte Österreich bei uns bitte hier;

www.hdgoe.at

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