Es war eine Zeit, in der alles noch ein bisserl gemütlicher vonstatten ging. Gewiss lag es wohl auch an dem Umstand, dass man noch jünger war, keine wie immer gearteten Verpflichtungen hatte und genau genommen die ganze Woche über nur dafür arbeiten ging, um am Wochenende auf den Fußballplatz gehen zu können. Dieses Vergnügen war leistbar und so tingelte man mit 18 Jahren quer durch Europa, um sich die verschiedensten Fußballspiele live anzusehen. So auch an jenem Wochenende vor 30 Jahren, am Samstag, 23. Juli 1988.
Der heimische SK VÖEST Linz, der seinerzeitige Klub des Herzens, war gerade abgestiegen und lud zur Saison-Premiere in Österreichs Liga 2 am Freitag davor den Aufsteiger SV Stockerau zum Heimspiel auf die Linzer Gugl. Das Spiel verlief für den Geschmack der wenigen Zuschauer, gut 1.000 „VÖESTler“ waren erschienen, zufriedenstellend, der Favorit aus Linz gewann mit 3 : 1.
Nach dem Schlusspfiff gegen 21 Uhr trottete man in die Linzer Altstadt. Dort fand man in jenen Jahren immer wieder Weggefährten und Mitstreiter, die für spontane Trips zu haben waren. Und weil man mit dem angebrochenen Wochenende ohnehin nun auch noch etwas sinnvolles anstellen wollte, der Reisepass mitunter sowieso immer am Mann war, entschied man sich gegen Mitternacht, spontan mit zwei Kumpels nach München zu fahren. Der „Alpenrhein“ der ÖBB verließ in jener Zeit den Wiener Westbahnhof um 00.15 Uhr, um seine tägliche Fahrt bis nach Sargans in der Schweiz anzutreten. Gegen 2 Uhr früh legte das „Eiserne Pferd“ stets am Linzer Hauptbahnhof einen längeren Halt ein. Zahlreiche Post-Säcke wurde dabei auf- und abgeladen. Dies nutzte man, um über Salzburg und die damals dort am Bahnhof ansässigen Grenzkontrollen weiter nach München zu düsen.
Gegen 5 Uhr früh erreichte man die Mozartmetropole, um nach kurzer Legitimation bei den bayrischen Zöllnern am Salzburger Hauptbahnhof deutschen Boden zu betreten. Ein Regionalzug fuhr kurze Zeit später bis München-Hauptbahnhof ab. Auch dieser Trip über die Dörfer und Ortschaften Freilassing, Rosenheim etc. dauerte an die 2 Stunden. Gegen 7 Uhr fuhr der Zug der Deutschen Bahn am Münchener Hauptbahnhof ein. Dort herrschte bereits mächtig Betrieb und zahlreiche Touristen, Pendler, Wochenend-Reisende und Fußballfans gaben sich ein munteres Stelldichein. Ein buntes Bild der Verschiedenartigkeit der Menschheit bot diese Kulisse bereits damals. Die „d´Schwemm“ am Bahnhof hatte natürlich immer geöffnet und so genoss man in aller Herrgottsfrüh bereits das erste bayrische Bier, das ohnehin meist ungenießbar war. Das lag aber nicht an der zeitigen Uhrzeit, sondern schlichtweg an dem Umstand, dass der Gaumen des Österreichers eben besseren Gerstensaft aus der Heimat gewohnt war.
Was in München immer sein musste, war der Besuch des Viktualienmarktes. Jener ständige Markt in der Altstadt, der gleich zu Beginn, quasi beim „Eingang“ in das Areal, auf der rechten Seite damals gut und gerne 12 bis 15 Fleischhauer en suite – die Germanen sagen Metzger dazu – aufwies. Heute gibt es dort noch 7 oder 8 solcher Fleischhauer „wie am Schnürchen“ in einer Reihe angesiedelt. Der Leberkäse am Viktualienmarkt? Unbeschreiblich! Ein lukullischer Genuss, mit der Zunge zu zerdrücken, wundervoll genießbar. Dann ging es – natürlich – weiter, entweder ins heute längst nicht mehr existierende Mathäser Bräu, oder aber ins Hofbräuhaus, vom Viktualienmarkt per pedes kurzfristig wunderbar erreichbar.
Dort durfte man damals, sollte man als Fußballfan erkennbar gewesen sein, nicht hinein. Zu oft flogen im Laufe der Zeit die Bierkrüge dermaßen tief, nachdem die diversesten Anhänger noch tiefer darin geblickt hatten. Nun, man war neutral gekleidet, kam naturgemäß hinein in die gute Stube und stellte dann fest, dass bereits eine Menge Hessen vor Ort waren. Kunststück, es herrschte „Eintracht“ in der Stadt. Der Grund für diesen Hopp war ja auch der Saisonauftakt in der Deutschen Fußball-Bundesliga. Der FC Bayern München empfing den Deutschen Pokalsieger von 1988, die SG Eintracht Frankfurt. Anstoß war um 15.30 Uhr.
Die SGEler feierten ein bisserl, alles jedoch mit „Maß und ohne weiteres Ziel für den Krug“ und die wenigen Bayern verhielten sich ruhig. Der Vormittag verstrich wie im Fluge als man gegen Mittag dann endlich via U-Bahn zum Olympiazentrum aufbrach. Nach einer geringfügigen Fahrtzeit erreichte man den Ort des Geschehens. Vom U-Bahnhof über das Gelände zum Olympiastadion war noch ein guter Fußmarsch zu absolvieren. Wenn man durchgemacht und bereits das eine oder andere Bier intus hatte, dann diente diese Wanderung immer wieder dazu, einen klaren Kopf zu bekommen. Und – es war heiß an jenem Tag. Sehr heiß sogar. Der eine oder andere – egal ob Bayern- oder SGE-Anhänger – kühlte sich im Olympiateich ab. Die zuständigen Ordnungshüter sahen das zwar nicht gerne, drückten aber bei Temperaturen jenseits der 35 Grad Marke sämtliche Augen zu.
Dann erreichte man die Kassenhäuschen. Beim Olympiastadion waren die dermaßen niedrig gereiht, sodass man als halbwegs gerade gewachsener Kerl fast schon in die Knie gehen musste, um dem Fräulein hinter der Plexiglaswand seinen Kartenwunsch verständlich übermitteln zu können. Das Schöne war – es gab Karten, in jeglicher Preislage und Kategorie, relativ günstig und das auch noch knapp vor dem Spiel. „Ausverkauft“ war stets der fromme Wunsch der Betreiber. Damals ging man am Spieltag hin, egal von wo man auch her kam, und es gab Karten in Hülle und Fülle. Keine Vorbestellungen, keine Vorverkaufsrechte, kein rein gar nichts: „Wir spielen heute und wer kommt, erhält sein Ticket, völlig problemlos um einen leistbaren Preis!“ Herrliche Zeiten waren das.
26.000 Besucher bevölkerten damals das gut 78.000 Zuschauer fassende Münchner Olympiastadion. Darunter waren 3.000 Schlachtenbummler aus der Mainmetropole Frankfurt. Man sicherte sich Tickets für die Nord-Kurve – die Bayern standen im Süden. Genau genommen war es ohnehin egal, wo man hineinging, denn von der Nord- konnte man über die Gegengerade wunderbar bis in die Süd-Kurve wandern. Dass diese Idee jedoch nicht zu viele der jeweils gegnerischen Fans haben werden, dies wusste stets die Reiterstaffel der Münchner Polizei zu unterbinden. Jene Herrschaften hoch zu Ross waren auch die einzigen Exekutiv-Organe im Stadion, die bewaffnet waren. Nur darum, um dem Pferd, sollte dieses durchdrehen und in die Menge galoppieren wollen, den Todesstoß versetzen zu können. Die anderen Polizeibeamten im Stadion, jene eben „zu ebener Erde“, waren lediglich mit Schlagstöcken ausgestattet.
Die Partie verlief flau. Ein richtiger Sommerkick eben. Es stand 0 : 0. Es stand sehr lange 0 : 0. Die Bayern waren als Vizemeister des Vorjahres auf einem Selbstfindungstrip, denn nachdem die Leistungsträger Lothar Matthäus, Andreas Brehme, Jean-Marie Pfaff und Norbert Eder die Rot-Weißen zum Ende der Spielzeit 1987/88 verlassen hatten, stand man an der Säbener Straße vor einem Neubeginn. Ganz anders die Eintracht. Beim regierenden DFB-Pokalsieger vom Mai 1988, der Goldtorschütze Lajos Detari wurde überaus gewinnbringend an Olympiakos Piräus verkauft, hoffte man auf sportlich anhaltend rosigere Zeiten.
In all diese Überlegungen hinein fiel urplötzlich, wie aus dem Nichts, das 1 : 0. Bayern´s „5er“, Klaus „Auge“ Augenthaler köpfte wuchtig zum 1 : 0 ein. Dann geschah etwas Merkwürdiges. Eintracht Keeper Uli Stein, damals Deutschlands bester Torhüter, nahm, wie benommen, an der Werbebande, außerhalb des Spielfeldes, hinter seinem Tor Platz. Der Uli saß auch noch dort, als Schiedsrichter Kurt Witke bereits zum Anstoß pfeifen wollte. Witke eilte zu Stein und offenbarte diesem wegen Unsportlichen Verhaltens die Gelbe Karte. Darauf der 33-jährige Stein, Routinier und nie ein Kind von Traurigkeit, applaudierend in Richtung Referee. Witke blieb nichts anderes übrig und zeigte „seinem applaudierenden Fan“ die Rote Karte. „Gelb“ wegen Nichtteilnahme am Spielgeschehen, ergo Unsportliches Verhalten und „Rot“ wegen Verhöhnung der Obrigkeit der Schiedsrichter.
Es gibt Dinge, die gibt es einfach nicht …
Völlig konsterniert schlich der Ausgeschlossene vom Feld. Hansi Gundelach folgte ihm im Kasten nach, stattdessen muss Michael Kostner vom Platz. Für die Eintracht war´s das. Die schwedische Neuerwerbung Johnny Ekström traf in der 81. Minute zum 2 : 0 und „Auge“ roch Lunte. Sein 3 : 0 in der 90. Spielminute war noch eine Draufgabe gegen die völlig aus den Fugen geratene Eintracht-Mannschaft. Ein kurioses Bundesliga-Auftaktspiel ging in die Annalen ein. Uli Stein wurde vom DFB jedoch nicht gesperrt, sondern erhielt lediglich eine Geldstrafe in Höhe von 5.000,- DM (€ 2.544,-)
Die Bayern holten am Ende der Saison ihren 11. Titel, die Eintracht kam das ganze Jahr über nie so richtig auf Touren und konnte sich zum Schluss erst in der Relegation gegen den 1. FC Saarbrücken die weitere Klassenzugehörigkeit zum Oberhaus sichern.
Klaus Augenthaler und Uli Stein begegneten einander im Jahr darauf – im Herbst 1989 – natürlich wieder. Auch diesmal blieb der „Auge“ Sieger. Es war dies übrigens der erste Sieg der Bayern in Frankfurt nach 19 Jahren Durststrecke.
Sehen Sie bitte selbst:
Uli Stein, zuvor unter Ernst Happel beim Hamburger SV zweifacher Deutscher Meister, DFB-Pokalsieger und Europapokalsieger der Landesmeister, damals die unumstrittene Nummer 1 für das Deutsche Tor, kam auf lediglich 6 A-Länderspiele, Zwei Jahre zuvor, bei der Fußball-WM in Mexiko 1986, soll er DFB-Teamchef Franz Beckenbauer vor versammelter Mannschaft als „Suppenkasper“ bezeichnet haben. Dieser spontane Ausspruch, der „Stein des Anstoßes“, sollte seine Nationalmannschafts-Karriere jäh beenden. Nichts desto trotz – Typen wie Uli Stein, Klaus Augenthaler und Konsorten fehlen heute dem Deutschen Fußballsport an allen Ecken und Enden.
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