Der 27jährige Dr. jur. Hugo Sperber 1912 in Wien. Foto: privat

Ein Werbeplakat mit diesem ganz und gar standeswidrigen Text war der Traum des Rechtsanwalts Dr. Hugo Sperber, den man getrost als das letzte Original des Wiener Barreaus nennen darf. Die Bezeichnung „Barreau“ ist seither aus der Mode gekommen. Sachs-Villattes Enzyklopädisches Wörterbuch übersetzt sie einigermaßen dürftig mit „Advokatenplatz“, was eine gleichfalls aus der Mode gekommene Bezeichnung für „Rechtsanwalt“ einschließt.“, so Friedrich Torberg über den Wiener Rechtsanwalt Dr. Hugo Sperber (* 26. November 1885 in Wien, † 16. Oktober 1938 im KZ Dachau)

Dr. Sperber war also ein Original unter den Wiener Advokaten, und nicht das einzige. Es gab damals auch noch andere „Verteidiger in Strafsachen“, die zu einer weit über ihren Stand hinausreichenden Berühmtheit gelangt waren – durch die rhetorische Brillanz ihrer Plädoyers, durch den Scharfsinn ihrer Beweisführung, durch ihre Kenntnis der Gesetze und Gesetzeslücken (in der sie nicht selten den Richter oder den Staatsanwalt übertrafen). Dr. Sperber besaß all diese Qualitäten und noch eine mehr, nämlich Witz; nicht nur im Sinn von Gewitztheit, sondern im Sinn einer hinreißenden Pointierungskunst und eines sonst nur bei Bühnenprofessionals anzutreffenden „timing“, das ihn befähigte, genau im richtigen Augenblick das Richtige zu sagen.

Manche seiner Aussprüche erreichten den Rang von Zitaten, ja sogar den der Anonymität: man kannte nur noch den Ausspruch, nicht mehr den Urheber. Sperber trug´s mit Fassung. „Wer hätte gedacht“, so tröstete er sich, „dass aus einem mährischen Juden jemals ein Volkslied werden könnte …“

Gleich vielen anderen, die schon zu Kaisers Zeiten das geistige Gepräge der Haupt- und Residenzstadt Wien mitbestimmt hatten, stammte Sperber aus Mähren, wo die deutschen, slawischen, magyarischen und jüdischen Elemente der alten Monarchie eine besonders fruchtbare Mischung eingegangen waren. Äußerlich glich er am ehesten einem jüdischen Verwandten Franz Schuberts, zumindest wenn er saß und wenn sein massiger, schwarzgelockter Schädel mit dem von Koteletten eingefassten Gesicht ihm zu einem kurzen Nickerchen auf die Brust gesunken war. Er schlief oft und gerne, er schlief im Kaffeehaus, im Gerichtssaal, in der Straßenbahn, wo immer sich’s traf. Übertriebene Körperpflege war seine Sache nicht, das keineswegs saubere Vorhemd sprang ihm bei jeder Gelegenheit aus der von Zigarettenasche bedeckten Weste, auch mit dem Rasieren nahm er´s nicht genau – Eitelkeit, kurzum, lag ihm in jeder Hinsicht fern. Zu seiner ohnehin auffälligen Erscheinung kam noch eine zugleich dröhnende und gequetschte Stimme, die ein sonderbares Röhren erzeugte, und zwar in jeder Tonlage, auch wenn er noch so leise sprach (oder zu sprechen glaubte). Man musste ihm zuhören. Und man tat es gerne.

Bleibt noch zu ergänzen, dass dieser Dr. Hugo Sperber ein seelensguter Mensch war, dass sich hinter seinem verschrobenen, fast schon verrückten Gehaben ein warmes, mitfühlendes Herz verbarg und dass seine Hilfs- und Opferbereitschaft in krassem Gegensatz zu seinen materiellen Möglichkeiten stand. Er hat manch lukrative Causa ausgeschlagen, um irgendeinen armen Schlucker ex offo zu verteidigen, und nach einiger Zeit wurde ihm keine lukrative Causa mehr angeboten.

In seinen letzten Lebensjahren ging es ihm erbärmlich schlecht, aber seine gute Laune und seine Selbstlosigkeit wurden dadurch nicht beeinträchtigt, bis zum Schluss nicht, bis zum grauenhaften Ende, das ihm die braunen Barbaren bereiteten. Sie hielten seine absurde Ausdrucksweise – die ihm längst zur Natur geworden war und die er nicht mehr ändern konnte – für eine Hausforderung, sie fühlten sich von ihm verhöhnt, und sie haben ihn buchstäblich totgetrampelt.

Ob er das kommen gesehen hat? Sein eigenes Ende wohl kaum. Aber dass der Machtantritt Hitlers keine vorübergehende Episode bedeutete, sondern den Beginn einer neuen, verhängnisvollen Ära, war ihm – als einem der wenigen unter uns – schon 1933 klar. „Hitler ist Reichskanzler geworden!“, röhrte er, als er am Abend des 30. Januar 1933 zur Kaffeehaustüre hereingewatschelt kam. „Für die nächsten hundert Jahre sind wir verpflegt.“ Dann setzte er sich an den Kartentisch.

Er war ein leidenschaftlicher Kartenspieler, ein Meister zumal des in Österreich als klassisch geltenden Tarock, das ein wenig dem deutschen Skat ähnelt und über dessen geheimnisvolle Symbolik Fritz von Herzmanovsky-Orlando in seinem Roman „Maskenspiel der Genien“ ebenso Tiefgründiges wie Verwunderliches kundgetan hat. (Der Roman spielt in einem „Tarockanien“ geheißenen Traumreich, das von vier Königen regiert wird und ein phantastisches Gegenstück zu Robert Musils später entstandenem „Kakanien“ darstellt.)

Ein zweites Lieblingsspiel Sperbers war das aus Ungarn importierte „Dardeln“, zu dem man doppeldeutsche Karten verwendet. Es weist nach Aussage von Kennern (denen ich nicht beizuzählen bin) Ähnlichkeiten mit dem schweizerischen „Jassen“ auf und kann, anders als das zu zweit, zu dritt oder zu viert spielbare Tarock, nur zu zweit gespielt werden. Sperbers bevorzugter Partner war Dr. Franz Ellbogen, ein Bohemien reinsten Wassers und wohlhabender Herkunft mit vielerlei kleinen Talenten ausgestattet und als Vortragender seiner eigenen Couplets ein beliebter Stammgast der „Reiss-Bar“, wo sich Wiens arrivierte Künstler mit ihren Bewunderern trafen.

Wenn Sperber und Ellbogen im Kaffeehaus „dardelten“, reichte die Schlange der Kiebitze oft bis auf die Straße hinaus, die Aussprüche der beiden Spieler wurden von den Zunächststehenden weitergegeben und durchliefen die Reihe so lange, bis auch der letzte sich vor Lachen krümmte. Die ansagen erfolgten manchmal auch griechisch oder lateinisch. „Habeo dardulum!“ konnte man da beispielsweise hören, und „Quousque?“ („Bis wohin?“) fragte der Partner. „Mechri tu basileos en to chloró“, lautete die von Rom nach Hellas umgeschaltete Antwort („Bis zum König in Grün“). Bei den Schachspielern im Cafe Central ging es ähnlich zu; gelegentlich erklangen dort sogar hebräische Brocken.

Überhaupt muss – schon weil es die damaligen Bohemiens hoch über ihre intellektuellen Nachfahren von heute hinaushebt – das Faktum vermerkt werden, dass all diesen Käuzen und Kaffeehauspflanzen (und noch den nutzlosesten Nichtstuern unter ihnen) ein gewaltiger Bestand von Bildungsgut und Kenntnisreichtum zu eigen war, den sie auch bei ihrer Umgebung als selbstverständlich voraussetzen. Wenn Sperber mich mit dem Zuruf: „Friedrich, mein Geschoß!“ begrüßte, hatte ich ganz einfach zu wissen, dass er damit eine Stelle des Tell-Monologs variierte: „Ich lebte still und friedlich, mein Geschoß! War auf die Tiere nur des Walds gerichtet.“ Erläuterungen wurden weder erteilt noch erwartet. Wer sich nach dem Sinn eines ihm unverständlichen Ausspruchs erkundigte, tat das auf eigene Gefahr.

Um jene Zeit lebte ich abwechselnd in Prag und Wien. In Prag stand mir die Wohnung meiner Mutter zur Verfügung, in Wien bezog ich – herkömmlicher Studentenart folgend, auch als ich kein Student mehr war – ein Zimmer bei irgendeiner möblierten Witwe. Wenn ich für den Aufenthalt in Prag nur ein paar Wochen vorgesehen hatte, bezahlte ich mein Wiener Untermietzimmer weiter, andernfalls musste ich mir nach meiner Rückkehr ein neues suchen. Und ich ließ es mir angelegen sein, mich immer möglichst nahe von Dr. Sperbers Wohnhaus einzuquartieren, weil ich mir das Vergnügen des gemeinsamen nächtlichen Heimwegs erhalten wollte.

Zum Ritual dieses Heimwegs gehörte es, dass wir bei einem der vielen „Würstelstände“ Station machten, die damals in weit größerer Zahl als heute das nächtliche Straßenbild Wien beherrschten. Der unsrige befand sich am Schottentor. Er wurde nicht, wie üblich, von einem Würstelmann geführt, sondern von einer ebenso beleibten wie geschwätzigen Würstelfrau. Sperber pflegte dort eine „Burenwurst“ zu konsumieren (manchmal auch zwei oder drei, denn er entwickelte selbst zu später Nacht- oder früher Morgenstunde enormen Appetit), ich ließ es bei einem Apfel bewenden, den ich mir als Stammkundschaft selbst aussuchen durfte. Eines Nachts wollte sich keiner finden, der mir zusagte, alle waren verfault oder sahen so aus und wirkten jedenfalls wenig einladend. Als ich zum dritten- oder vierten mal nach einem neuen Apfel griff, begann der Redeschwall unsrer Würstelfrau auf mich loszuprasseln: „Das sind sehr gute Apferln junger Herr das sind keine schlechten Apferln die sind nur vom Transport bissel ang´schlagen drum haben s´ die kleinen brauen Flecken der Herr das müssen S´ Ihnen vorstellen wann die Holzwatta zwischen den einzelnen Apferln zu dünn is dann schlagen s´ halt beim Transport gegeneinander und da kriegt so ein Apferl einen braunen Fleck und wann s´ dann nocheinmal gegeneinanderschlagen kriegt´s  vielleicht noch einen zweiten –„

An dieser Stelle unterbrach der immer nervöser gewordene Dr. Sperber die würstelfrauliche Redeflut: „Die Genesis, liebe Frau, ist nicht interessant!“

Es war vermutlich das erste Mal in ihrem Leben, dass die Würstelfrau das Wort „Genesis“ hörte. Sie verstummte erschrocken.

Mit weiblichem Dienstpersonal hatte Sperber überhaupt seine Schwierigkeiten, besonders mit den Garderobe- und Abortfrauen der diversen Wiener Kaffeehäuser. In seinen Augen waren es lauter Hexen, eigens ausgesandt, um ihm das Leben zu erschweren. In einem der Nachtcafés, die wir frequentierten, hatte die Abortfrau – von Sperber dieserhalb als „Abortfrau mit erweitertem Kompetenzkreis“ bezeichnet – auch das Kartenzimmer zu betreuen, womit sie sich Sperbers zusätzliche Abneigung einhandelte. Es erregte nicht geringes Aufsehen im ganzen Lokal, als Sperber einmal aus dem Klosett (er nannte es „Stoffwechselstube“) hervorgestürzt kam und seine röhrende Stimme zu lautem Zorngeheul steigerte: „Abortfrau! Abortfrau! Wo soll das hinführen? Ich bin Rechtsanwalt und Sie sind Abortfrau. Wenn ich gegen meine beruflichen Pflichten verstoße, habe ich eine Disziplinarstrafe zu gegenwärtigen und kann sogar aus der Advokatenkammer ausgeschlossen werden. Abortfrau! Möchten sie mir gefälligst sagen, was in einem Parallelfall mit Ihnen geschieht oder an welch höhere Berufsinstanz ich mich wenden kann, um das zu erfahren?!“

So ging es noch minutenlang weiter, ehe die Ursache seines Tobens sich herauskristallisierte: das Klopapier war zu Ende gegangen und nicht erneuert worden.

Bei einem Nachmittagsnickerchen in einer der hintersten Logen des Café Herrenhof wurde Sperber durch einen zufällig hereingeschneiten Gast aufgestört, der in der Nebenloge Platz nahm, nur „rasch eine Kleinigkeit“ essen wollte und den Schlafbedürftigen obendrein dadurch erbitterte, dass er sämtliche Vorschläge des Kellners Franz als zu opulent zurückwies. Selbst das angebotene Schinkenbrot überstieg seinen Appetit. Der ratlos gewordene Franz machte einen letzten Versuch und empfahl ein weichgekochtes Ei, also wahrlich das Minimum einer Bestellung.

Auch das sei ihm noch zu viel, beharrt der schwierige Gast. Da aber jaulte Sperber auf: „Franz! Damit endlich Ruh ist, fangen Sie dem Herrn eine Fliege!“

Seine Abneigung gegen „Abortfrauen mit erweitertem Kompetenzkreis“ bedeutete keineswegs, dass er dem männlichen Kaffeehauspersonal besondere Sympathie zuwandte. Die Kellner, die für die Versorgung der Kartenspieler mit den nötigen Requisiten zuständig waren, drängten immer wieder auf eine Bestellung, und Sperber, von chronischer Geldknappheit verfolgt, suchte dem Konsumationszwang immer wieder zu entgehen. Das führte, als sich ein diensthabender Kellner besonders hartnäckig zeigte, zu folgendem Dialog:

Kellner: „Was wird angenehm sein, Herr Doktor?“

Sperber: „Ein Paket doppeldeutsche Karten, ich sagte es ja schon.“

Kellner: „Jawohl bittesehr. Und was noch?“

Sperber: „Ein Ersatzpaket.“

Kellner: „Wünschen Herr Doktor sonst noch etwas?“

Sperber: „Eine Tafel, eine Kreide und einen Schwamm, bevor Sie weiterfragen!“

Der Kellner brachte das Gewünschte und blieb, auch als die Partie schon begonnen hatte, immer noch wartend stehen. „Herr Ober“, wandte sich Sperber mit erhobener Stimme an ihn. „Merken Sie nicht, dass Ihrer Anwesenheit lediglich dekorative Bedeutung zukommt?“

Mit seiner intellektuell verschraubten Ausdrucksweise zielte Sperber nicht etwa darauf ab, sich über Gesprächspartner von geringerem Bildungsniveau lustig zu machen. Er konnte nicht anders. Es war ihm nicht gegeben, sich „normal“ auszudrücken. Die verständnisvolle Heiterkeit, die er damit im Gerichtssaal hervorrief, ließ ihn im Grunde ebenso gleichgültig wie das Unverständnis, auf das er außerhalb des Gerichtssaals stoßen mochte. Und jetzt wird es Zeit, von den zahllosen Aussprüchen, denen er seinen advokatorischen Ruf und Ruhm verdankte, wenigstens eine kleine Anzahl vor der Vergessenheit zu bewahren.

Der wahrscheinlich populärste dieser Aussprüche, der jahrelang in allerlei Variationen (und schließlich ohne Quellenangabe) kursierte, fiel in der Verhandlung gegen einen von Sperber ex offo verteidigten Einbrecher. Der Mann hatte zwei Einbruchsdiebstähle begangen, den einen bei Tag, den anderen bei Nacht, und der Staatsanwalt legte ihm als erschwerend im ersten Fall die besondere Frechheit zur Last, mit der er sein verbrecherisches Handwerk sogar bei Tageslicht ausübte, im zweiten Fall die besondere Tücke, mit der er sich das Dunkel der Nacht zunutze gemacht hatte.

An dieser Stelle erdröhnte der Gerichtssaal von Dr. Sperbers Zwischenruf: „Herr Staatsanwalt, wann soll mein Klient eigentlich einbrechen?“ Und in der nächsten Sekunde erdröhnte der Gerichtssaal vor Gelächter.

Auch als ein geistig minderbemittelter Hirtenknabe der Sodomie mit einer Kuh angeklagt war, kam der übereifrige Staatsanwalt nicht gut weg. Er hielt ein so flammendes Plädoyer, als hätte der armselige Älpler das denkbar gemeingefährlichste Verbrechen begangen, und forderte strenge Bestrafung. Dr. Sperber erhob sich zur Verteidigungsrede, wobei er das vorbereitete Konvolut ostentativ beiseite legte. „Die Worte des öffentlichen Anklägers“, begann er im Tonfall hoffnungsloser Resignation, „haben mich tief beeindruckt. Ich kann ihnen nicht widersprechen.“ Und mit wuchtigem Pathos: „Ja ich möchte sogar die Frage hinzufügen: war die Kuh schon vierzehn Jahre alt?“ Der Hirte wurde zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt.

Ein anderer Fall war die Pflichtverteidigung eines pensionierten Sektionsrates, dessen Straftat sich wohl nur umwegig schildern lässt. Der alte Herr war nach einer Pensionierung einer absonderlichen, zwar mit keinerlei Gewalttätigkeit verbundenen, aber doch strafbaren sexuellen Perversion verfallen: er lockte minderjährige Mädchen in seine Wohnung, band eine Seidenschnur an den kümmerlichen Restbestand seiner Männlichkeit und ließ sich von der betreffenden Minderjährigen so lange um den Tisch seines Wohnzimmers herumführen, bis die Führung ihren Zweck erreicht hatte. Die Sache flog auf und der auf Abwege geratene Pensionist wurde vor Gericht gestellt. Dort wusste er vor Scham und Verlegenheit nicht ein noch aus, brachte kein Wort zu seiner Verteidigung hervor und durchkreuzte alle Bemühungen Dr. Sperbers, ihm entlastende Äußerungen zu entlocken, durch hartnäckiges Schweigen. Als er auch auf eine besonders mundgerechte Entlastungsfrage nur durch stumme Abkehr seines schamroten Gesichts reagierte, hob Sperber verzweifelt die Arme: „Herr Vorsitzender – der kurz angebundene Sektionsrat verweigert die Aussage!“

Ein andrer gab auf die für ihn konstruierten Entlastungsfragen so dumme Antworten, dass Sperber in den Klageschrei ausbrach: „Herr Vorsitzender – mein Klient verblödet mir unter der Hand!“

Eher gegenteilig verhielt es sich mit einem Einbrecher, der nicht aufhören wollte, ihm während des Plädoyers vermeintliche Entlastungsumstände zuzuflüstern. Sperber versuchte sie eine Zeitlang zu überhören, dann wies er den unerwünschten Souffleur laut hörbar zurecht: „Lieber Freund, ich habe Sie nicht beim Einbrechen gestört – stören Sie mich nicht beim Verteidigen!“

In einem Zivilprozess, den zwei streitsüchtige Greise seit Jahren miteinander führten, hatte Dr. Sperber die Verteidigung des 84jährigen  gegen den 87jährigen übernommen, aber wann immer es zu einer Tagsatzung kommen sollte, war entweder der eine oder der andere der beiden Kontrahenten gerade erkrankt und nicht verhandlungsfähig. Als zum vierten mal vertagt wurde, meldet sich Dr. Sperber: „Herr Vorsitzender – ich beantrage die Abtretung des Falles an das Jüngste Gericht!“

Die sogenannten „Bassena“-Prozesse – als „Bassena“ bezeichnete man das Wasserleitungsbecken, das in den alten Wiener Wohnhäusern auf dem Gang installiert war, immer nur eines für sämtliche Wohnparteien des betreffenden Stockwerks, und als „Bassena“-Prozesse bezeichnete man die Ehrenbeleidigungsklagen, die aus den Zusammenstößen und Beschimpfungen rund um die Bassena entstanden – diese Prozesse also, meistens im Bezirksgericht Josefstadt vor sich gehend, gaben den Kennern wahre Leckerbissen und reiches Material zur Erforschung der Volksseele ab. Wenn vollends ruchbar wurde, dass Dr. Sperber als Verteidiger fungieren würde, war der kleine Saal des Bezirksgerichts zum Bersten voll, und man tat gut daran, sich schon im Voraus den Eintritt zu sichern, was am besten durch persönliche Fühlungnahme mit Dr. Sperber geschah.

Als ich mich wieder einmal bei ihm erkundigte, wann der besuch eines solchen „Bassena“-Prozesses in der nächsten Zeit lohnend wäre, zog er sein kleines, verschmuddeltes Notizbuch hervor und begann zu blättern: „Warten Sie … hm … am nächsten Dienstag bin ich mit einer Dreckschlampen hier … das ist nichts für Sie … aber halt! Donnerstag habe ich einen geleckten Arsch, dass Ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen wird!“ Es lief.

1934, nach Auflösung des Parlaments durch Bundeskanzler Dollfuß, installierte sich in Österreich der autoritäre „Christliche Ständestaat“. Das bedeutet das Ende der politischen Parteien, empfindliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit, allerlei Deutschtümelei mit unverkennbar antisemitischen Tendenzen, Einführung der Pressezensur und andere ganz- oder halbfaschistische Maßnahmen, die dem großen Nazi-Bruder den Wind aus den Segeln nehmen sollten (den er sich bekanntlich nicht nehmen ließ).

Es bedeutet auch das Ende des Humors im Gerichtssaal, vor allem aber der Toleranz, die ihn geduldet hatte. Als Dr. Sperber im Korridor des oben erwähnten Bezirksgerichts auf einer Türe die Aufschrift „Parteienklosett“ missbilligenden Blicks betrachtete und dem vorbeikommenden Gerichtsdiener lautstark empfahl, eben diese undeutsche und verfassungswidrige Titulatur in „Ständeabort“ zu ändern, blieb er zunächst noch ungeschoren. Aber kurz darauf ereilte ihn ein unfreundliches Schicksal. Er hatte, alter Sozialdemokrat der er war, die Pflichtverteidigung eines jugendlichen „Illegalen“ übernommen, dem ein nicht ganz geklärtes Sprengstoffattentat zur Last gelegt wurde. In seinem Plädoyer, das auch an anderen Stellen von seiner rührend naiven Fehleinschätzung der neuen Situation zeugte, appellierte er folgendermaßen an die Milde des Gerichts:

„Ich bitte Sie, die Unerfahrenheit des jugendlichen Sprengstoffattentäters in Rechnung zu ziehen. Offenbar wusste er nicht, dass das einzige in Österreich erlaubte Sprengmittel das Weihwasser ist!“

Weder dem Angeklagten noch ihm selbst war damit geholfen. Sperber wurde an Ort und Stelle verhaftet. Die Protektion eines Gerichtsarztes bewirkte seine Überstellung ins Inquisitenspital, der wenig später die Entlassung folgte. Vorher hatte er noch einen Kassiber hinausgeschmuggelt, dessen Text alsbald im Freundeskreis die Runde machte:

„Ich befinde mich im Inquisitenspital, Dollfuß hingegen an der Regierung. Umgekehrt wär´ besser …!“

Statt dessen wurde es schlechter und schlechter. Und 1938 wurde es so schlecht, dass Dr. Hugo Sperber sein Leben einbüßte.

von Friedrich Torberg, 1952

Über Friedrich Torberg

Der große österreichische Autor, Schriftsteller, Humorist, Feuilletonist, Literat und Welt-Mensch Friedrich Torberg (*16. September 1908 in Wien), der seine Wiener Wurzeln, trotz Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA, nie verloren hatte, kehrte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in seine geliebte Heimatstadt zurück und wirkte hier bis zu seinem Ableben am 10. November 1979. Friedrich Torberg liebte nicht nur sein überaus zahlreiches schriftstellerisches Schaffen, es war für ihn geradezu eine Selbstverständlichkeit, Briefe von Hand zu beantworten. Am 16. Oktober 1979 wurde ihm der „Große Österreichische Staatspreis für Literatur” verliehen. Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky meinte anhand seiner Grabrede am 19. November 1979: „Er war verwurzelt in der Welt von gestern, aber er hat ein großes Stück hinübergerettet in die Welt von heute und er hat für uns ein Erbe verwaltet, das nicht vertan werden sollte.” Friedrich Torberg fand am Wiener Zentralfriedhof, gleich neben Arthur Schnitzler, seine letzte Ruhestätte.

Aus Anlass des 40. Todestages von Friedrich Torberg am 10. November 2019 bringen wir in nächster Zeit hier bei uns einige seiner Werke, die er zu Lebzeiten dem oepb für die weitere Publizierung überlassen hatte.

Bitte beachten Sie auch diese Friedrich Torberg-Geschichten bei uns;

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