v.l.: Dir.-Stv. Dr. Martina Amler (NÖGKK), Priv.-Doz. Dr. Robert Sauermann (HV), MR Dr. Dietmar Baumgartner (ÄK), Gerhard Hutter, Dr. Michaela Stitz (beide NÖGKK). Foto: NÖGKK
v.l.: Dir.-Stv. Dr. Martina Amler (NÖGKK), Priv.-Doz. Dr. Robert Sauermann (HV), MR Dr. Dietmar Baumgartner (ÄK), Gerhard Hutter, Dr. Michaela Stitz (beide NÖGKK). Foto: NÖGKK

Die Anzahl der Patienten, die mehr als fünf Medikamente einnehmen, steigt stetig an. 60.000 Versicherte der NÖ Gebietskrankenkasse (NÖGKK) nahmen im Oktober 2014 mehr als fünf Wirkstoffe ein. 70 Prozent waren älter als 65 Jahre. Die Auswirkungen von Polypharmazie, also dem gleichzeitigen Gebrauch mehrerer Medikamente, sind oft problematisch: Bei Einnahme unterschiedlicher Arzneimittel können sich Nebenwirkungen addieren. Das Risiko von Wechselwirkungen steigt mit jedem zusätzlichen Medikament exponentiell an. Die NÖGKK und die Ärztekammer für Niederösterreich starten in Zusammenarbeit mit den anderen niederösterreichischen Krankenversicherungsträgern die große Informationskampagne „Vorsicht Wechselwirkung!“. Damit soll das Ausmaß der Polypharmazie in Niederösterreich verringert und so die medikamentöse Behandlungsqualität optimiert werden. Die Kampagne hat zwei Adressaten: Sie richtet sich gleichzeitig an Patienten – und an die Ärzteschaft.

Unerwünschte Wirkungen: Allzu viel ist ungesund
Muss jemand mehrere Arzneien einnehmen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass unerwünschte Wechselwirkungen auftreten. Die Wirkung des einen Medikaments kann Einfluss auf den Effekt des anderen haben.“, erklärt NÖGKK-Obmann Gerhard Hutter. „Statt Gutes zu bewirken, können Tabletten und Tropfen dann zu gesundheitlichen Problemen führen.“ Der gefährliche Pillenmix ist meist gar nicht geplant – er tritt vielmehr schleichend auf. Zu seit langer Zeit verschriebenen Tabletten kommen oft neue hinzu: Sei es, weil ein anderer Arzt sie verschreibt – sei es, weil man sie sich selbst in der Apotheke besorgt. „Die alte Regel „Allzu viel ist ungesundgilt deshalb oft auch in Bezug auf Medikamente.“, ergänzt Gerhard Hutter.

Neben- und Wechselwirkungen
Polypharmazie findet man vor allem bei chronisch kranken oder älteren Menschen, bei denen mehrere Krankheiten gleichzeitig diagnostiziert werden. Die Einnahme vieler Medikamente kann dann zu Problemen führen. Auf der einen Seite können sich Nebenwirkungen addieren, auf der anderen Seite steigt auch das Wechselwirkungspotential an: Sind bei 4 Medikamenten 6 Interaktionen möglich, so sind es bei 10 Medikamenten bereits 45. Das Risiko für Wechselwirkungen steigt mit der Zahl der eingenommenen Medikamente – bei 2 Medikamenten beträgt die Wahrscheinlichkeit für Wechselwirkungen 6 Prozent, bei 8 Medikamenten gar 100 Prozent. Auch das Alter hat Auswirkungen auf die Heilmitteleinnahme. Wassergehalt und Muskelmasse im Körper nehmen ab, die Nierenfunktion und damit die Ausscheidung von einigen Arzneistoffen lassen nach. Aus diesem Grund können die Nebenwirkungen altersbedingt stärker ausfallen. In einer Salzburger Studie waren Medikamenten-Nebenwirkungen der Grund für 57 Prozent der Spitalseinweisungen der über 71jährigen.

Therapietreue? – Unterversorgung trotz vieler Medikamente
Auf der anderen Seite kann Polypharmazie auch zu Unterversorgung führen. Die Ursache dafür sind Probleme mit der so genannten Compliance (Therapietreue) von Patienten mit mehreren Medikamenten. Die Einnahmetreue nimmt mit der Anzahl der Medikamente stark ab. Bei mehr als 6 Medikamenten nehmen nur mehr 20 Prozent der Patienten alle Medikamente richtig ein, sagen Studien. Die Auswahl, welches Medikament tatsächlich eingenommen wird, erfolgt oft zufällig oder willkürlich. Die Gefahr von Verschlechterung einer Krankheit durch Unterversorgung kann so durch die Verschreibung vieler Medikamente erhöht werden. „Wir wissen nicht, ob Patienten die verordneten und auch in der Apotheke abgeholten Medikamente wirklich einnehmen beziehungsweise ob die Dosierung eingehalten wird.“, sagt MR Dr. Dietmar Baumgartner, Kurienobmann der Niedergelassenen Ärzte und Vizepräsident der Ärztekammer für Niederösterreich. „Polypharmazie ist seit langem ein bekanntes Problem; und dennoch sind alle Bemühungen, sie in Grenzen zu halten – gerade bei multimorbiden Menschen, also bei mehrfach Erkrankten – nicht immer möglich. Vor allem bei hoch betagten multimorbiden Patienten müssen wir dann versuchen, ein Optimum an Lebensqualität zu erreichen.“, so Dietmar Baumgartner.

Sechs Wirkstoffe und mehr: 70 Prozent sind älter als 65
In Österreich haben 695 000 Menschen mehr als fünf Wirkstoffe im Quartal verschrieben bekommen, das zeigen österreichweite Auswertungen der Krankenversicherungsträger. 376.500 Patienten, die bei der NÖGKK krankenversichert sind, erhielten im Oktober 2014 mindestens ein Medikament. 60.000 davon nahmen mehr als fünf Wirkstoffe zu sich. Fast 42.000 Patienten waren älter als 65, das sind 70 Prozent. Knapp 49.000 davon nahmen zwischen 6 und 10 Wirkstoffe zu sich, 9.800 Patienten wurden zwischen 11 und 15 Wirkstoffe verschrieben, 1.200 zwischen 16 und 20. „Aber es gibt Patienten, die noch mehr Pillen schlucken müssen.“, erklärt NÖGKK-Obmann Gerhard Hutter. „Wir haben leider auch Personen, denen über 30 Wirkstoffe verschrieben werden. Der Spitzenwert liegt sogar bei 73!“ Der NÖGKK-Obmann stellt fest, dass es der Krankenkasse bei dieser Kampagne nicht darum gehe, Medikamentenkosten einzusparen. „Es gilt vielmehr, die Patienten vor möglichen Schäden zu bewahren und die zu Verfügung stehenden Ressourcen nützlich einzusetzen.“

441 Millionen Euro für Medikamente
Jeder Patient wird bestmöglich versorgt und erhält die Behandlung, die für sie oder ihn am besten ist.“, fährt Hutter fort. Das sei nur möglich aufgrund des Solidareffekts und Riskenausgleichs innerhalb der Versichertengemeinschaft in Österreich. Ein einzelner Patient mit dem größten Medikamentenaufwand im Jahr 2014 erhielt Heilmittel in der Höhe von mehr als 1 Million Euro verschrieben. Die NÖGKK gab 2013 insgesamt 441 Millionen Euro für Heilmittel aus. Das waren 1,2 Millionen Euro pro Kalendertag. „Unsere Versicherten und ihre Anspruchsberechtigten werden bestmöglich versorgt und erhalten die Behandlung, die für sie am besten ist. Das gilt selbstverständlich auch im Zusammenhang mit Medikamenten. Der Hausarzt als Arzt des Vertrauens ist der richtige Ansprechpartner.“, so Gerhard Hutter. Auch Dietmar Baumgartner appelliert an die Therapietreue und den Kontakt zur Ärzteschaft: „Sollte ein Patient eine andere Dosierung wünschen oder das Medikament gar nicht einnehmen wollen, muss dies unbedingt mit dem Arzt des Vertrauens besprochen werden. Auf keinen Fall sollten Patienten ein Medikament aus der Apotheke holen und dem Arzt die Einnahme vorspielen.“ Der Vizepräsident der NÖ Ärztekammer weist darauf hin, dass damit nicht nur ein Schaden für die Öffentlichkeit entsteht, weil das abgelaufene Medikament wieder entsorgt wird, sondern auch für den Patienten selbst. „Die gesamte aufeinander abgestimmte Dosierung passt nicht mehr zusammen, eine Erkrankung kann sich dadurch verschlimmern und der Heilungsprozess hinausgezögert oder sogar verhindert werden.“ Die neue Informationskampagne von NÖGKK und Ärztekammer NÖ setzt auf zwei Adressatengruppen und wendet sich sowohl an die Patienten, als auch an die niederösterreichische Ärzteschaft.

Verunsicherte Patienten, gesammeltes Wissen
Viele Patienten mit mehreren Medikamenten sind verunsichert, scheuen aber davor zurück, genauer nachzufragen.“, erklärt der stellvertretende Leiter der Abteilung „Vertragspartner Medikamente“ im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, Doz. Dr. Robert Sauermann. „Manche ändern ihre Therapie sogar ohne ärztliche Rücksprache. Durch die Kampagne sollen die Patienten ermuntert und darin bestärkt werden, alle Fragen und Unsicherheiten betreffend Medikamente, Hausmittel oder Nahrungsergänzungsmittel gegenüber ihren Ärzten ganz offen anzusprechen. Denn ein offenes Gespräch ist die Ausgangsbasis, um ein optimales individuelles Therapieschema zu erreichen, das auch eingehalten wird.“, sagt Dr. Robert Sauermann. Auch Ärztekammervizepräsident Dietmar Baumgartner wünscht sich, „dass das Wissen über alle verordneten und eingenommenen Medikamente bei einem Arzt zusammenläuft – auch die rezeptfreien und pflanzlichen Medikamente“.

Unterstützung für die Betroffenen
Anhand eines Folders führt dieser die betroffenen Patienten in die Problematik ein und gibt Tipps für die richtige Medikamenteneinnahme. Sie werden aufgefordert, Fragen zu stellen und damit auch Mitverantwortung für die Behandlung zu übernehmen. Die behandelnden Hausärzte können sich einen Überblick verschaffen und so das Risiko sowie Nutzen und Wechselwirkungen abwägen. Für Ärzte wurden zwei weitere Unterlagen erstellt, die einen kurzen und strukturierten Überblick über verschiedene fachliche Informationen, Anregungen und Hilfsmittel vermitteln, mit deren Hilfe die Qualität der Medikation gesteigert und auch die Polypharmazie reduziert werden kann. „Sehr wichtig ist, dass die Ärzteunterlage den Ärzten auch alltagstauglicheWerkzeuge“ vorstellt, mit deren Hilfe sie die Medikation einzelner Patienten in der Praxis ganz konkret „durchforsten“ können“, schließt Dr. Robert Sauermann. „Das ist eine Unterstützung für die praktische Arbeit.“

Das Informationsmaterial ist in allen NÖGKK-Service-Centern und bei vielen Ärzten in Niederösterreich kostenlos erhältlich. Es kann selbstverständlich auch über www.noegkk.at bezogen werden.

 

 

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