Wien ist die Stadt der funktionierenden Legenden. Böswillige behaupten, dass die Legenden überhaupt das einzige seien, was in Wien funktioniert, aber das geht entschieden zu weit. Wer sich an das depravierte, schlaff dahinvegetierende Wien der Zwischenkriegszeit erinnert oder an das von Bomben- und Besetzungsschäden durchfurchte Wien nach 1945, wird auf den ersten Blick feststellen können, zu welchem Vorteil es sich verändert hat und wie neugierig, wie real, wie legendenfern und legendenfremd diese Veränderungen sind. Ob es sich nun um die Bewältigung großstädtischer Verkehrsprobleme handelt, um die weiträumigen Untergrundpassagen an den überlasteten Straßenkreuzungen, um Rolltreppen und Wohnbauten, um Stadion und Höhenstraße, um die moderne Ausgestaltung der öffentlichen Gartenanlagen – ach, es ist viel geleistet worden, und auf den Plakaten einer Wanderausstellung über das heutige Wien, die vor kurzem durch etliche Städte der Bundesrepublik zog, prangte in großen Lettern der Slogan „Wien – die Stadt der Arbeit“, ohne dass ringsumher das schallendste Gelächter ausgebrochen wäre.
Indessen sind Siedlungshäuser und soziales Grün und neuzeitliche Verkehrsregelungen, wie verdienstlich sie auch sein mögen, keineswegs typisch für Wien. Das gibt´s auch anderswo, und häufig gibt es anderswo nichts als das. Typisch für Wien, und nur für Wien, ist nach wie vor, dass die Legenden funktionieren. Und das werden sie tun, solange es Wirklichkeiten gibt, die sich nach ihnen richten. In Wien nämlich verhält sich´s nicht so, dass die Realität eines Tatbestands allmählich verblasst und legendär wird. In Wien entwickelt sich die Legende zur Wirklichkeit.
Als die Wiener einander beim Heurigen lang genug vorgesungen hatten, wie gemütlich sie seien, konnten sie sich nicht mehr Lügen strafen und wurden gemütlich. Als Arthur Schnitzler in seinen Theaterstücken den Typ des „süßen Mädels“ schuf, entstand das süße Mädel. Auch dass Wien je nachdem die Stadt der Lieder, eine sterbende Märchenstadt oder stets die Stadt meiner Träume sein soll, wurde erst durch die entsprechenden Texte stipuliert, und die Befürchtung drängt ich auf, dass im Prater die Bäume nicht blühen könnten, wenn sie vorher nicht die gesungene Bewilligung erteilt bekommen hätten. (Bei genauerem Zusehen wird man allerdings von einer schönen Konzessionsbereitschaft des Textdichters beruhigt: „Im Prater blühn wieder die Bäume“, sagt er ganz ausdrücklich und überlässt damit der Natur doch ein gewisses Prioritätsrecht.)
Wie immer dem sei: von den Lipizzanern der Spanischen Hofreitschule bis zur Burg und Oper, vom Restaurant Sacher bis zur Konditorei Demel ist es die Wirklichkeit, die der Legende nachkommt, ja geradezu nacheifert, sind es die funktionierenden Legenden, die das Charakterbild Wiens entscheidend mitbestimmen.
Die weitaus komplizierteste dieser Legenden ist das Wiener Kaffeehaus!
Versuchen wir, uns der Komplikation auf geradem Wege zu nähern. Bilden wir einen reinen, einfachen Aussagesatz: „Ein Gast sitzt im Kaffeehaus und trinkt Kaffee.“
Man sollte meinen, dass dieser Satz an Klarheit nichts zu wünschen überlässt. In Wahrheit lässt er alles zu wünschen übrig. Er sagt zwar etwas aus, aber er besagt nichts. Kein einziger Begriff, mit denen er operiert, ist eindeutig. Vielmehr stellt sich sofort eine Reihe weiterer Fragen, von denen wir hier nur die drei wichtigsten anführen wollen:
- Wer ist der Gast?
- In welcher Art von Kaffeehaus sitzt er?
- Was ist es für ein Kaffee, den er trinkt?
Die letzte Frage lässt sich am leichtesten – und für den Laien am leichtesten verständlich – beantworten. Auch dem Laien wird es einleuchten, dass man etwa in London nicht zur Cunard Line gehen und auf die Frage, was man wünsche, nicht einfach antworten kann: „Ein Schiff.“ Ebensowenig kann man in ein Wiener Kaffeehaus gehen und einfach „einen Kaffee“ bestellen. Man muss sich da schon etwas genauer ausdrücken. Denn die Anzahl der Gattungen, Zubereitungsarten, Farben und Quantitäten, unter denen es zu wählen gibt, hat keine Grenzen oder hat sie erst in nebelhafter Ferne, und wer da nicht irregehen will, wird gut tun, sich wenigstens ein paar Grundbegriffe einzuprägen. Sonst könnte er versucht sein, die Bestellung „Nussbraun“, die der Kellner soeben in lässiger Verkürzung an die Küche weitergegeben hat, lediglich für die Farbangabe des bestellten Kaffees zu halten, indessen sie sich doch in erster Linie auf das Größenmaß der Schale bezieht, in der er serviert wird; sie würde vollständig nicht etwa „eine Schale nussbraun“, sondern „eine Nussschale braun“ zu lauten haben. „Nussschale“ bezeichnet in sinnvoll-poetischer Chiffre das kleinste der drei gebräuchlichen Größenmaße. Das mittlere heißt „Piccolo“ und darf nicht mit dem gleichnamigen Zuträgerlehrling verwechselt werden, der in der Kellnerhierarchie den untersten Rang innehat und sozusagen die Nussschale unter den Kellnern ist. Als oberstes Größenmaß gilt die „Teeschale“, die, wenn sie tatsächlich Tee enthält, nicht „Teeschale“ heißt, sondern „eine Schale Tee“ (unter „Tasse“ versteht man in Wien die Untertasse).
Was die Zubereitung betrifft, so muss man heute den „normalen“ Kaffee oft schon eigens verlangen, sonst bekommt man automatisch einen nach der Espresso-Methode hergestellten. In vielen Lokalen gibt es gar keinen anderen mehr, zumal in den kleineren, die sich zwei verschiedene Maschinen nicht leisten können und die rentablere Espresso-Maschine vorziehen. Der Espresso kann „kurz“ oder „gestreckt“ zubereitet werden, je nach der Menge des verwendeten Wassers. Als „Kurzer“ verdrängt er allmählich den einst seiner Stärke wegen geschätzten „Türkischen“, der in der Kupferkanne gekocht und serviert wird. Der in Frankreich beheimatete „Café filtre“ hat sich in Österreich niemals durchgesetzt. Und dass in den als „Espresso“ bezeichneten Lokalen kein „normal“ gekochter Kaffee ausgeschenkt wird, versteht sich von selbst.
Es war aber dieser „normale“, auf „Wiener“ oder „Karlsbader“ Art zubereitete Kaffee, der den Rum des Wiener Kaffeehauses begründet hat und die Vielfalt der möglichen Bestellungen bis heute gewährleistet, dem wir die „Melange“ verdanken und den „Kapuziner“, den „Braunen“ und die „Schale Gold“ – Bezeichnungen, deren manche bereits offenbaren, in welchem Verhältnis Kaffee und Milch gemischt sind: bei der „Melange“ zu ungefähr gleichen Teilen, bei der „Schale Gold“ mit einem deutlichen Übergewicht des Kaffees, beim „Kapuziner“ mit einem noch deutlicheren. Die Kenntnis dieser Kombinationen ist für eine halbwegs fachmännische Bestellung unbedingt erforderlich. Hinzu kommen der keiner Erklärung bedürftige „Schwarze“ oder „Mokka“, der „Einspänner“ (ein Schwarzer im Glas mit sehr viel Schlagobers), der „Mazagran“ (ein durch Eiswürfel gekühlter, mit Rum versetzter Mokka) und eine schier unübersehbare Menge von Variationen der oben angeführten Grundfarben, je nach Neigung und Sekkatur des Gastes, und gewöhnlich durch ein an die Bestellung angehängtes „mehr licht“, oder „mehr dunkel“ angedeutet.
Ein Perfektionist unter den einstigen Kellnern des „Café Herrenhof“ trug ständig eine Lackierer-Farbskala mit zwanzig nummerierten Schattierungen von Braun bei sich und hatte den erfolgreichen Ehrgeiz, seinen Stammgästen den Kaffee genau in der gewünschten Farbtönung zu servieren. Bestellungen und Beschwerden erfolgten dann nur noch unter Angabe der Nummer: „Bitte einen Vierzehner mit Schlag!“ oder „Hermann, was soll das? Ich habe einen Achter bestellt, und Sie bringen mir einen Zwölfer!“ Aber das waren Mätzchen, die über ihren engeren Ursprungsbezirk nicht hinauskamen und keine Allgemeingültigkeit beanspruchten, so wenig wie der „Sperbertürke“, ein doppelt starker, mit Würfelzucker aufgekochter „Türkischer“, den der Wiener Rechtsanwalt Hugo Sperber, im Café Herrenhof, vor anstrengenden Verhandlungen einzunehmen liebte; oder der „überstürzte Neumann“, die Erfindung eines andern, Neumann geheißenen Stammgastes, die darin bestand, dass das Schlagobers nicht auf den bereits fertigen Kaffee, sondern auf den Boden der noch leeren Schale gelagert und sodann mit heißem Kaffee „überstürzt“ wurde.
Die Kenntnis all dieser Nuancen und Finessen darf jedoch vom durchschnittlichen Kaffeehausbesucher schon deshalb nicht verlangt werden, weil auch der durchschnittliche Kaffeehauskellner heute nur über äußerst mangelnde Kenntnisse verfügt und selbst im Allgemeingültigen nicht immer Bescheid weiß. Wie es denn überhaupt Zeit zu der Feststellung ist, dass vieles vom bisher Gesagten sich auf unwiederbringlich Vergangenes bezieht und dass im Wiener Kaffeehausleben sehr erhebliche, ja fundamentale Veränderungen vor sich gegangen sind.
Damit haben wir die verschiedenen Art von Kaffee, die ein Gast in einem Wiener Kaffeehaus trinken kann (oder konnte), hinter uns gelassen und kommen zu unserer zweiten Frage, zur Frage nach den verschiedenen Arten von Kaffeehaus, die es gibt – und die es nicht mehr gibt. Weil aber zwischen Kaffeehaustypen und Gästetypen ein unlöslicher Kausalnexus besteht, weil sie einander formen und bedingen, wird in diesem Zusammenhang auch die Frage nach dem Gast zu beantworten sein, der im Wiener Kaffeehaus sitzt – und nicht mehr sitzt.
Es wäre ein aussichtsloses Unterfangen, das vielschichtige Phänomen „Kaffeehaus“ auf einen Nenner bringen zu wollen. Seine Typen liegen zu weit auseinander. Jenes „kleine Café in Hernals“, von dem ein populäres Lied der 1930er Jahre zu singen und zu sagen wusste, dass dort „ein Grammophon mit leisem Ton an English Valse“ spielt, hat so gut wie nichts mit dem als „Literatencafé“ bekannten Typ gemeinsam; das gleißnerisch verchromte, meist an ein vornehmes Hotel angeschlossene Kaffeehaus der City so gut wie nichts mit dem kleinen, in einer engen Nebengasse gelegenen „Beisl“, das den Schweizern in der Gasthausform „Beitz“ bekannt ist. (Die schweizerische „Beitz“ wurzelt ebenso wie das wienerische „Beisl“ im hebräischen „Bajis“ = Haus.) Periphere Entscheidungen wie die „Café-Konditorei“ oder die „Jausenstation“ draußen im Grünen können hier außer Betracht bleiben.
Anders und verwirrender verhält es sich mit dem „Café-Restaurant“, das um 1925 aufkam und lange vor dem „Espresso“ die eigentliche, radikale Erschütterung der klassischen Kaffeehausatmosphäre mit sich brachte. Bis dahin hatte man – außer den zahllosen Arten von Weißgebäck und sonstigen Bäckereien, denen eine eigene Geschichte zu widmen wäre – im Kaffeehaus nichts „Richtiges“ zu essen bekommen. Es gab belegte Brote und, wenn es unbedingt etwas Warmes sein musste, ein Paar Würstel oder eine Eierspeise: Notlösungen, als solche gemeint und beabsichtigt. Denn ins Kaffeehaus kam man ja nicht zu, sondern nach dem Essen, nicht um der fleischlichen, sondern um der geistigen Nahrung willen. Der Einbruch von Küche und Keller in den Kaffeehausbetrieb, das Auftauchen umfangreicher Speisen- und Getränkekarten mit regulären „Menus“ war mehr als ein bloß formaler Bruch mit jahrhundertealten Traditionen. Es war die erste, verhängnisvolle Konzession an die veränderten Zeitläufte, ein Zurückweichen vor ihren materialistischen Tendenzen, ein resigniertes Eingeständnis, dass immer weniger Menschen bereit waren, für Colloquium und Convivum auch nur eine warme Mahlzeit zu opfern (oder diese Mahlzeit anderswo einzunehmen). Der Dienst am Kunden obsiegte über den Dienst am Geist.
Aber wie das in Wien schon geht, und wie es späterhin auch dem „Espresso“ ergehen sollte: der Sieg wurde nicht ausgenützt, sondern nützte sich ab, versandete, verschlampte und blieb in jener Halbschlächtigkeit stecken, aus der noch stets die einzige Entscheidung erwachsen ist, die der Österreicher mühelos zu treffen vermag: keine Entscheidung zu treffen. In gewisser Hinsicht war es sogar ein Pyrrhussieg. Denn das große Kaffeehaussterben, das nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, betraf hauptsächlich die Café-Restaurants und ging ohne Zweifel auch darauf zurück, dass für diese Mischform keine rechte Notwendigkeit mehr bestand. Im Gasthaus, wo man ohnedies besser und billiger essen konnte, gab es seit Einführung der Espresso-Maschinen auch sehr guten Kaffee (was früher nicht immer der Fall gewesen war), und wenn es darauf ankam, Zeitungen zu lesen oder mit Freuden beisammen zu sitzen, der hielt es lieber mit den „echten“ Kaffeehäusern, die nach wie vor bestanden.
Und nach wie vor bestehen. Es kann gar nicht genug unterstrichen werden, dass sie es sind, die den Begriff des „Wiener Kaffeehauses“ verkörpern, sie und nicht das Literatencafé, das man besonders im Ausland gerne mit dem Wiener Kaffeehaus identifiziert – verständlicherweise, denn es waren notwendig Literaten, die über das Kaffeehaus schrieben, und sie stützten sich dabei notwendig auf die Wahrnehmungen, die sie in „ihrem“ Kaffeehaus, also in einem Literatencafé gemacht hatten. Das Literatencafé mag immerhin die ziselierteste Ausprägung des Kaffeehausbegriffs sein, aber es ist nicht repräsentativ für ihn, und es stellt nicht einmal in sich einen fest umrissenen Typus dar, der sich eindeutig definieren ließe. Eindeutig war, in neuerer Zeit, immer nur das jeweils „führende“ Literatencafé festzustellen, das Café Griensteidl etwa, wo sich um 1890 die Vertreter des damaligen „Jung-Wien“ – Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann, Hermann Bahr – zusammenfanden, und von dessen Abbruch Karl Kraus die Anregung zu seiner ersten, noch vor Gründung der „Fackel“ erschienenen Streitschrift empfing („Die demolirte Litteratur“, 1896). Es folgte mit Karl Kraus, Peter Altenberg, Egon Friedell und Alfred Polgar als sozusagen „gründenden“ Stammgästen – das Café Central, das seinen Rang bis zum Ende des Ersten Weltkrieges beibehielt und vom Café Herrenhof abgelöst wurde, dem letzten der großen Reihe, dessen Glanzbesetzung etwa durch die Namen Hermann Broch, Robert Musil, Franz Werfel und Joseph Roth gekennzeichnet ist, und das nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine kurze, schon ein wenig asthmatische Renaissance erleben durfte, ehe es zum Mittagstisch für die Beamten der umliegenden Ministerien herabsank und 1960 endgültig seine Pforten schloss.
Dies also waren die führenden, die Literatencafés im engeren Sinn. Im weiteren Sinn entsprachen der gängigen Vorstellung, die sich mit dieser Bezeichnung verband, mehr oder weniger alle Kaffeehäuser, in denen eine gewisse Anzahl geistig und künstlerisch interessierter Menschen – das, was man heute „Intellektuelle“ nennt – sich regelmäßig einfand. Solcher Kaffeehäuser gab es sehr, sehr viele, und solcher Kaffeehäuser gibt es heute nur noch sehr, sehr wenige.
Die Ursachen – politischer, soziologischer und technischer Art – liegen auf der Hand. Das Stammpublikum dieser Kaffeehäuser war, wie das geistig und künstlerisch interessierte Publikum insgesamt, zu großem Teil jüdisch. Vor 1938 lebte in Wien fast eine Viertelmillion Juden. Heute zählen sie knapp Zehntausend. Das ist das eine, und daran ist nichts zu rütteln. Es macht sich wahrlich auch auf anderen Gebieten des öffentlichen Lebens geltend, aber auf keinem so nachhaltig und mit so einschneidenden Folgen wie hier. Was nicht etwa besagen soll, dass es in Wien keine Literaten, keine Intellektuellen, keine geistig und künstlerisch interessierten Menschen mehr gäbe. Natürlich gibt es sie. Aber sie sind nicht nur in ihrer Anzahl empfindlich reduziert, sie sind es auch in ihren Möglichkeiten zum Kaffeehausbesuch. Sie sind – und damit kommt die Soziologie ins Spiel – beschäftigt. Sie haben zu tun. Sie sind nicht nur noch potentielle Kaffeehaus-Stammgäste, keine praktischen mehr. Sie bringen alle Erfordernisse eines Stammgastes mit, nur sich selbst nicht. Sie haben keine Zeit. Und Zeithaben ist die wichtigste, die unerlässliche Voraussetzung jeglicher Kaffeehauskultur (ja am Ende wohl jeglicher Kultur). Auch die Stammgäste der früheren Literatencafés waren beschäftigt: zum Teil eben damit, im Kaffeehaus zu sitzen, zum Teil mit Dingen, die sie im Kaffeehaus erledigen konnten und wollten. Dort schrieben und dichteten sie. Dort empfinden und beantworteten sie ihre Post. Dort wurden sie telephonisch angerufen, und wenn sie zufällig nicht da waren, nahm der Ober die Nachricht für sie entgegen. Dort trafen sie ihre Freunde und ihre Feinde, dort musste man hingehen, wenn man mit ihnen sprechen wollte, dort lasen sie ihre Zeitungen, dort diskutierten sie, dort leben sie. (Kürschners Literaturkalender verzeichnete jahrelang als Peter Altenbergs Adresse: Café Central, Wien I.) In ihrer Wohnung schliefen sie nur. Ihr wirkliches Zuhause war das Kaffeehaus.
Warum ist es das nicht mehr? Auch für jene nicht, die konstitutionell dafür geeignet wären? Liegt es an ihnen, dass sie im Kaffeehaus nicht mehr arbeiten können? Liegt es am Kaffeehaus?
Es liegt an ihrer Arbeit. Es liegt an der Technik, die sich mit Politik und Soziologie zu unheimlichem Trifolium zusammengeschlossen hat. Es liegt an dem, dass die heutigen Dichter direkt in die Schreibmaschine dichten, und die kann man ins Kaffeehaus nicht mitnehmen; dass sie ihre Hörspiele der Sekretärin diktieren, die man ins Kaffeehaus gleichfalls nicht mitnehmen kann (oder nicht zum Diktieren); dass auch der Produktionsleiter der Fernseh-Dramaturgie, der Programmdirektor der Funkabteilung „Kulturelles Wort“ nicht ins Kaffeehaus kommen können, sondern in ihren Studios und Büros aufgesucht werden wollen – mit Recht, denn sie haben ebenso wenig Zeit wie ihre Autoren und bekommen dafür ebenso wenig Geld. Und selbstverständlich haben sie alle sowohl zu Hause wie im Büro ein Telephon, so dass sie nicht darauf angewiesen sind, sich im Kaffeehaus kostenlos anrufen zu lassen, oder die sechs Minuten Sprechdauer, die ihnen der einmalige Münzeinwurf zugesteht, für drei Gespräche auszunützen.
Nicht nur ihr eigenes Telephon haben sie, die meisten von ihnen haben auch ihr eigenes Auto. Das sind Berufsbehelfe. Das ist längst kein Luxus mehr. Ein Luxus ist es, Zeit zu haben. Noch die armseligsten Insassen der alten Literaturcafés konnten sich diesen Luxus leisten. Sie waren arm und selig. Geld zu verdienen, galt ihnen beinahe als schimpflich. Zur Bezahlung der Zeche – wofern man sie nicht einfach schuldig blieb – waren die Mäzene da, die es gleichfalls nicht mehr gibt, und gäbe es sie, dann hätten sie gleichfalls keine Zeit. Die Insassen der heutigen Literaturcafés sind ihre eigenen Mäzene. Das Kaffeehaus ist nicht mehr das Um und Auf ihres Daseins, sondern bestenfalls das Drum und Dran. Es spielt keine Rolle mehr. Es ist ihnen gleichgültig, vielleicht sogar angenehm, aber nicht unentbehrlich. Sie können ins Kaffeehaus gehen, aber sie müssen nicht. Wenn sie hingehen, tun sie dem Kaffeehaus einen Gefallen, nicht sich. Es ist ihnen keine Lebensnotwendigkeit mehr, es ist nicht mehr der Humus, ohne den sie verdorren würden, ohne den sie nicht gedeihen könnten und nichts hervorbringen.
Denn die Produktivkraft des einstigen Literatencafés, im engeren wie im weiteren Sinn verstanden, war enorm. Im Kaffeehaus wurden literarische Schulen und Stile geboren und verworfen, vom Kaffeehaus nahmen neue Richtungen der Malerei, der Musik, der Architektur ihren Ausgang. Überflüssig sei zu sagen, dass jedes dieser Kaffeehäuser seine eigene, unverwechselbare, eifersüchtig gehütete Note und Atmosphäre hatte. Ein Stammgast des „Central“ oder des „Herrenhof“ hätte sich im „Museum“, dem Kaffeehaus der Maler, so fremd und verlassen und ausgestoßen gefühlt, wie ein Stammgast des Musikercafés „Parsifal“ im Journalistencafé „Rebhuhn“. Heute eignen Rest von Unverwechselbarkeit allenfalls noch dem „Raimund“ und dem „Hawelka“, zwei echten Kaffeehäusern, jenes zur Literatur, dieses zur bildenden Kunst tendierend. Aber die Grenzen verfließen. Man sieht im „Hawelka“ auch Schriftsteller und Journalisten, im „Raimund“ auch avantgardistische Malerbärte und Schauspieler in beiden. Unverwischte und unverfälschte Atmosphäre ist eigentlich nur noch dort zu finden, wo sie nicht von den Gästen abhängt, wo eine Lokalität als solche ihren eigenen Stil entwickelt und aufrechterhalten hat: beim „Demel“, oder in der von Wiens rebellischem Architekten Adolf Loos 1907 erbauten und unter Denkmalschutz stehenden „Kärntner-Bar“, oder in einigen der kleinen, versteckten Heurigen. Und das sind keine Kaffeehäuser.
Dennoch verfügen sie über Wesenszüge, die sie mit dem echten Kaffeehaus inniger verbinden, als das echte mit dem unechten verbunden ist. Zu diesen Wesenszügen gehören Kontinuität, Regelmaß, Selbstbescheidung, gehört die Fähigkeit, Grenzen zu ziehen und sie nicht zu überschreiten. Genau diese Wesenszüge wird man in den echten Kaffeehäusern finden, die trotz den Kassandrarufen oberflächlicher Reisefeuilletonisten und klischeefreudiger Untergangsstimmungsmacher keineswegs aussterben, sondern sich lediglich in die ihnen gemäßen Grenzen – welche sie kennen – zurückgezogen haben. Zurück aus der City, die sich auch hier, dem internationalen Reisepublikum zu schnödem Gefallen, einer so trostlosen Nivellierung anheimgibt, dass man in wenigen Jahren nicht mehr wissen wird, ob das Lokal, in dem man gerade sitzt, zu Wien oder Kopenhagen oder Buenos Aires gehört. In solchem Weichbild hat das Wiener Kaffeehaus nichts zu suchen.
Aber gleich jenseits des Rings, wo´s auf die Gürtellinie zugeht und wo Wien noch Wien ist, lebt auch das Wiener Kaffeehaus unverändert weiter, mit unverrückbaren Stammtischen und Stammgästen, jahrzehntelang vom selben Ober betreut, mit Tarock- und Schach- und Billardpartien wie eh und je, mit Zeitungen für viele Stunden und immer neu herangetragenen Gläsern voll frischen Wassers, mit Abgeschiedenheit oder Gesprächen, mit Stille oder Geselligkeit ganz nach Wunsch. Und wenn nicht alles trügt, hat von dort her sogar ein Rückstoß eingesetzt, schickt das Kaffeehaus sich an, sein in der City verlorenes Terrain wieder zu erobern und zu kultivieren.
Als vor etwa einem Jahrzehnt die ersten „Espresso“ geheißenen Lokale sich auftaten, gebärdeten sie sich als völlig neuer Typ, taten wenig für die Bequemlichkeit und alles für die Eile des hastigen Großstädters, hießen ihn seine Konsumation im Stehen oder bestenfalls auf Barhockern vertilgen, offerierten unter schaurig eisgekühltem Glas allerlei vertrockneten Imbiss und ließen sich´s überhaupt angelegen sein, ihrer Bezeichnung in jeder Weise gerecht zu werden. Aber schon bald begann es dort minder express herzugehen. Verstohlen und erst nur im Hintergrund tauchten kleine Tische und Stühle auf, die sich immer kühner nach vorn schoben und an denen man wenig später ein rechtschaffen belegtes Brot, ein Paar Würstel oder eine Eiserspeise serviert bekam, ganz wie im echten Kaffeehaus.
Und als das Lokal sich entweder rückwärts oder ins darüber gelegene Stockwerk ausdehnte, als wie zufällig die ersten Mittagsblätter auf den Tischen herumlagen und allmählich die Morgenblätter und die wichtigsten ausländischen Zeitungen hinzukamen: da konnte es keinen Zweifel mehr geben, wo die Entwicklung hinsteuerte.
Wenn es schon nicht der reine Geist war, der hier obsiegte – der Geist des Kaffeehauses war es ganz gewiss. Der schlampige, korrupte, unbezwingliche und unvergleichliche Geist des Wiener Kaffeehauses.
von Friedrich Torberg, 1959
Über Friedrich Torberg
Der große österreichische Autor, Schriftsteller, Humorist, Feuilletonist, Literat und Welt-Mensch Friedrich Torberg (*16. September 1908 in Wien), der seine Wiener Wurzeln, trotz Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA, nie verloren hatte, kehrte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in seine geliebte Heimatstadt zurück und wirkte hier bis zu seinem Ableben am 10. November 1979. Friedrich Torberg liebte nicht nur sein überaus zahlreiches schriftstellerisches Schaffen, es war für ihn geradezu eine Selbstverständlichkeit, Briefe von Hand zu beantworten. Am 16. Oktober 1979 wurde ihm der „Große Österreichische Staatspreis für Literatur” verliehen. Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky meinte anhand seiner Grabrede am 19. November 1979: „Er war verwurzelt in der Welt von gestern, aber er hat ein großes Stück hinübergerettet in die Welt von heute und er hat für uns ein Erbe verwaltet, das nicht vertan werden sollte.” Friedrich Torberg fand am Wiener Zentralfriedhof, gleich neben Arthur Schnitzler, seine letzte Ruhestätte.
Aus Anlass des 40. Todestages von Friedrich Torberg am 10. November 2019 bringen wir in nächster Zeit hier bei uns einige seiner Werke, die er zu Lebzeiten dem oepb für die weitere Publizierung überlassen hatte.