Unter dem rührseligen Slogan „Der letzte reißt die Schüssel ab“ nahm der TSV Fortuna Düsseldorf von 1895 tränenreich Abschied vom lieb gewordenen und im Laufe der Jahrzehnte ans Herz gewachsene Rheinstadion. Die zu diesem letzten Meisterschaftsspiel am Sonntag, 3. März 2002 zahlreich anwesenden Essener von RWE hielten dies für bare Münze und stellten sich beim Derby mit einem riesengroßen Transparent unter dem Motto „Wir sind die Abrisskolonne“ ein. Über 21.000 Zuschauer – in der 3. Liga wohlgemerkt, der rheinische Nachbar 1. FC Köln verbuchte tags zuvor bei seinem Erstliga-Heimspiel gegen Hertha BSC Berlin „nur“ knapp 20.000 Besucher – pilgerten ein letztes Mal zum alten Schlager der beiden ehemaligen Oberliga West-Rivalen und nahmen ein jeder für sich Abschied von „Der Schüssel“.
Im Zuge dessen erschien später unter dem Titel „SCHÖN UND GROSS“ ein Druckwerk, das in zahlreichem Bild und Wort die Abbrucharbeiten des alten Rheinstadions beinahe lückenlos dokumentierte. Deutschland eben, fußballverrückt bis in die Poren – in jeglicher Hinsicht. Man sprengt ein Stadion weg und hält das ganze Procedere dann auch noch dokumentarisch für die Nachwelt geschickt am Leben.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Der wohl einzige Verein in Österreich, dem es gelingen könnte, in ähnliche publizistische Fußstapfen zu treten, ist der SK RAPID Wien. Nur dort agieren (leider, aus Sicht der sportlichen Mitbewerber) derartige Freaks in stattlicher Zahl, denen a) solch ein Projekt überhaupt in den Sinn kommt und b) die auch die späteren Druckwerk-Leser-Abnehmer dafür haben. Und so ging Fotograf Kurt Prinz her und dokumentierte den Niedergang des ehemaligen Weststadions – dem späteren Ing. Gerhard Hanappi-Stadion – mit seiner Linse und hielt in zahlreichen Schnappschüssen die Abriss-Arbeiten fest. Grandios dabei ist, dass das Buch vorne mit der Ruine beginnt und am Ende der Lektüre das Stadion in seiner wahren und alten Pracht zeigt.
Man muss kein RAPID-Anhänger gewesen sein, um die Auswärtsfahrten hinunter nach Wien-Hütteldorf wertgeschätzt zu haben. Egal, ob die Anreise aus dem Westen der Republik per Bahn erfolgte – RAPID kam da an Abendspielen unter der Woche sehr gelegen, denn gerade aus Linz kommend war man nach knapp zwei Stunden Fahrzeit, gepaart mit zwei Wieselburger-Krügerln im Speisewagen der ÖBB rasch zur Stelle – oder aber mit dem PKW, der einen rasch und umkompliziert über die A1 nach Hütteldorf-Hacking verfrachtete, das Stadion lag günstig und man musste weder Zeitausgleich noch Urlaub oder dergleichen nehmen, um einen Auswärtshopp nach Hütteldorf absolvieren zu können.
„Markier net Oida, steh auf und spül weida!“ – so ein graumelierter Herr mit einem „SCR/Die Kanoniere“-Druckschal ausgestattet lautstark auf der Nord-Tribüne des Hanappi-Stadions am Abend des 5. September 1980. Was war passiert? Willi Kreuz, Dreh- und Angelpunkt im Mittelfeld-Spiel des SK VÖEST Linz und bei den zahlreichen Anhängern der Linzer Werksportler ein absoluter Publikumsliebling, sank in der 72. Minute zusammen. Kreuz sprintete auf einen Flankenball von Max Hagmayr, ihm nach zwei RAPID´ler, von denen einer den Linzer Spielgestalter nur mehr von hinten traf. Ein schmerzhafter Schlag mit Folgen – die Achillessehne war gerissen und in späterer Folge die Ära des 56fachen ÖFB-Teamkapitäns damit beendet. Kreuz kämpfte sich zwar zurück und feierte im Februar 1981 sein Comeback bei VÖEST, an seine alten Spitzen-Leistungen konnte er jedoch nie mehr wieder gänzlich anknüpfen. Jahre später sah man als sogenannter „Jung-Redakteur“ ein Wiener Derby, bei dem die Wiener Austria RAPID mit 5 : 1 aus dem eigenen Stadion kanonierte. 16. November 1985 – es war dies Hans Krankls letztes Derby als Spieler im RAPID-Dress. Der FAK kannte im Hanappi-Stadion keine Gnade und zerlegte den alten Rivalen in sämtliche Einzel-Teile. Diese Geschichten fallen dem Rezensent stets spontan ein, wenn er an das Hanappi-Stadion denkt …
Seit dem 25. April 1912 ist RAPID in Hütteldorf ansässig, sieht man von einem Intermezzo auf dem Exerzierfeld der Schmelz / 15. Wiener Gemeinde-Bezirk ab – so ist es überliefert. 65 Jahre hindurch diente die „Pfarrwiese“ als grimmige Heimstätte der „Grünen“. Dort gab es für die Gegner nur selten etwas zu holen. In den frühen 1970er Jahren hieß es, die Pfarrwiese müsse einem Verkehrsbauwerk weichen, was nicht geschah. Im März 1982 wurde der alte „RAPID-Platz“ abgerissen, heute befindet sich dort eine Tennis-Anlage.
Bereits 1971 wurde mit dem Bau des Weststadions nach den Plänen des langjährigen Wacker– und RAPID-Spielers Ing. Gerhard Hanappi begonnen. Es wäre ein Monster-Projekt mit zahlreichen Trainingsplätzen, einer Halle und dergleichen gewesen, hätte nicht noch die Gemeinde Wien den Rotstift angesetzt und Sparmaßnahmen ergriffen. So stand das Stadion auch um 90 Grad „falsch“, war zur Folge hatte, dass bei den beiden offenen Tribünen Ost und West gerne der Wind durchpfiff. Hanappi war diese „Fehl-Stellung“ stets ein Dorn im Auge gewesen, aber als Architekt waren ihm die Hände gebunden.
Mit dem Schülerliga-Finale von 1976 zwischen dem BRG Linz-Fadingerstraße und der HS Nenzing (2 : 2 nach regulärer Spielzeit, 4 : 2 im Elfmeterschießen) vor 6.000 Zuschauern bestand das neue Weststadion seine Feuertaufe. Die Deutschen Nationalspieler Berti Vogts und Jupp Heynckes gaben den damaligen „Kickern von morgen“ wertvolle Tipps für die Straftstoß-Ausübung.
Am 10. Mai 1977 trat RAPID erstmals im neuen Weststadion an, am 6. Juli 2014 zum letzten Mal. Als absoluter Höhepunkt bleibt wohl für immer der 25. Mai 1982 haften. RAPID fegte am letzten Spieltag der Saison 1981/82 über Wacker Innsbruck mit 5 : 0 hinweg, verbuchte damit für sich selbst den ersten Meistertitel nach einer Durststrecke von 14 Jahren und durchbrach die bis heute unerreichte vierjährige en suite Titel-Serie des FK Austria Wien. Die Dunkelziffer besagt, dass 25.000 + Zuschauer im für 20.000 Besucher zugelassenen Hanappi-Stadion anwesend waren. Für den Aktiven Hans Krankl, der damals gesperrt war, gab es kein Halten mehr, der Goaleador brüllte seine helle Freude in die aufgestellten ORF-Kameras.
Große Spiele hatte dieses Areal erlebt, aber auch schmerzvolle Niederlagen, nicht nur von RAPID. Die Ungarische Nationalmannschaft machte beispielsweise am 17. April 1985 mit der ÖFB-Auswahl anhand eines 3 : 0-Triumphs kurzen Prozess, die Qualifikation für die Fußball-WM 1986 in Mexiko war somit futsch. Herbert Prohaska verzieh seinem Magyaren-Kumpel Tibor Nyilasi, beide für die Austria aktiv, diese Schmach lange nicht.
Unvergessen aus Sicht des SK RAPID sind auch jene Spiele, die im Europapokal-Bewerb 1984/85 den Weg zum Europacup der Pokalsieger-Endspiel nach Rotterdam ebneten. 4 : 1 gegen Besiktas Istanbul, 3 : 1 gegen Celtic Glasgow, 5 : 0 gegen Dynamo Dresden, 3 : 1 gegen Dynamo Moskau – so die Heimspiel-Ergebnisse der damaligen Zeit. Kurios dabei, dass nur das Moskau-Spiel ausverkauft war, bei all den anderen Partien waren „nur“ 15.000 Besucher oder weniger auf den Rängen präsent. RAPID verbuchte in jenen Jahren meist einen Schnitt von 5./6.000 Zuschauern, lediglich zum Wiener Derby pilgerten gut und gerne 15.000 Besucher hinaus nach Hütteldorf. Jenen Zuspruch, den RAPID derzeit hat (17.000 im Schnitt kamen im Spieljahr 2015/16 in den Wiener Prater, was den besten Besucher-Durchschnitt seit 1956 ausmacht) geht auf das Meisterjahr 2004/05 zurück. Urplötzlich rannten die Leute den Grünen die Bude ein und das Hanappi-Stadion wurde bei einigen Spielen zu klein. Und heute wollen nur die Wenigsten wissen, dass sich beispielsweise am 27. November 1993 lediglich 1.500 Unentwegte zu einem Derby gegen den Wiener Sport-Club eingefunden hatten. Doch das ist der Lauf der Geschichte – einmal oben, einmal unten, nur betongraues Mittelmaß, das nervt.
Der Wiener Fotograf Kurt Prinz dokumentierte vom ersten Tag an den Abriss der Tribünen, der Flutlichtmasten, Kabinen und VIP-Logen. Daraus entstand dieser Bildband, der das Stadion so zeigt, wie es selbst die eingefleischtesten RAPID-Fans noch nicht gesehen haben: seziert bis in die Einzelteile, gefangen in melancholischer Stimmung, freigelegt und entblößt.
Das oepb meint dazu:
Geschichte lebendig zu (er)halten, Erzählungen und Erlebtes für die Nachwelt zu bewahren und – in diesem Falle möglich – fotografisch festzuhalten, ein herrlicher Aspekt. Die Idee ist zwar nicht neu, bloß trauen sich die wenigsten so ein Projekt überhaupt zu. Gratulation diesen Buch-Machern, denn es ist ein Unterschied, ob man Geschichte sprichwörtlich zu leben versucht, oder ein bisserl nachhilft. Ein Bildband für Leute, die gerne schmökern und am Vergangenen nicht immer nur Negatives sehen. Das Neue kommt ohnehin von selbst und RAPIDer als man denkt.
Die letzten Tage des Hanappi-Stadions von Kurt Prinz Promedia, 88 Seiten, gebunden, Format: 30cm breit mal 21,5cm hoch zum Preis von € 24,90 ISBN: 978-3-85371-414-0 Direkt zu bestellen bitte h i e r : www.skrapid.at www.bundesliga.at