Die Tante Jolesch” war nicht schön, jedoch Wärme, Klugheit und eine große Portion Herzlichkeit zeichnete sie zu Lebzeiten aus. Friedrich Torberg erinnerte sich sehr lebhaft an “seine” Tante Jolesch”. Foto: © oepb

Was die Tante Jolesch betrifft, so verdanke ich die Kenntnis ihrer Existenz – und vieler der von ihr überlieferten Aussprüche – meiner Freundschaft mit ihrem Neffen Franz, dem lieben, allseits verhätschelten Sprössling einer ursprünglich aus Ungarn stammenden Industriellenfamilie, die seit langem in einer der deutschen Sprachinseln Mährens ansässig und zu beträchtlichem Wohlstand gelangt war.

Franz, bildhübsch und mit einer starken Begabung zum Nichtstun ausgestattet – das er nur dem Bridgespiel und der Jagd zuliebe aufgab – muss um mindestens 12 Jahre älter gewesen sein als ich, denn er wurde von seinen gleichaltrigen Freunden auch späterhin noch scherzhaft als „Seiner Majestät schönster Leutnant“ bezeichnet.

Ich war wiederholt auf dem mährischen Besitz seiner Familie zu Gast – „Ein Narr, wer kein Gut in Mähren hat“, hieß es damals in einem zynisch-selbstironischen Diktum jener Kreise – und blieb ihm bis zu seinem arg verfrühten Tod herzlich verbunden. Die einrückenden Deutschen hatten ihn 1939 als Juden eingesperrt, die befreiten Tschechen hatten ihn 1945 als Deutschen ausgewiesen. Man könnte sagen, dass sich auf seinem Rücken die übergangslose Umwandlung des Davidsterns in ein Hakenkreuz vollzog. Er verbrachte dann noch einige Zeit in Wien und übersiedelte schließlich nach Chile, wo er bald darauf an den Folgen seiner KZ-Haft gestorben ist. Die Tante Jolesch hat das alles nicht mehr erlebt.

Franz war ihr Lieblingsneffe, und es fügt sich gut, dass einer ihrer markantesten Aussprüche mit ihm zusammenhängt – mit ihm und mit zwei unter Juden tief verwurzelten Gewohnheiten. Die eine besteht in der Anrufung des göttlichen Wohlwollens für einen demnächst auszuführenden Plan, etwa eine Reise, die man „so Gott will“ morgen antreten und von der man nächste Woche „mit Gottes Hilfe“ zurückkehren wird, außer es käme „Gott behüte“ etwas dazwischen, vielleicht gar ein Unglück, und „Gott soll einen davor schützen“, dass dies geschehe. Nicht minder tief sitzt, wenngleich ohne religiöse Verankerung, das jüdische Bedürfnis, einem schon geschehenen Missgeschick hinterher eine gute Seite abzugewinnen. Die hier zur Anwendung gelangte Floskel lautet: „Noch ein Glück, dass …“ und kann sich beispielsweise auf eine plötzliche Erkrankung beziehen, die nur dank rascher ärztlicher Hilfe zu keiner Katastrophe geführt hat: „Noch ein Glück, dass der Arzt sofort gekommen ist“: oder es kann „noch ein Glück“ sein, dass bei dieser Gelegenheit ein andrer gefährlicher Krankheitskeim entdeckt und entschärft wurde.

Nun hatte Neffe Franz, als er einmal von einer Autoreise heimkehrte, unterwegs einen Unfall erlitten, bei dem er zwar mit dem Schrecken und gelinden Blechschäden davongekommen war, der aber dennoch am Familientisch ausgiebigen Gesprächsstoff abgab, teils weil sowohl Autobesitz wie Autounfälle damals erst im Anfangsstadium standen, also Seltenheitswert besaßen, teils weil man noch nachträglich um Franzens heile Knochen bangte. Immer wieder wollte man hören, wie er die drohende Gefahr – sein Wagen war auf einer regennassen Brücke ins Schleudern geraten – von sich abgewendet hatte, immer wieder hob Franz zu erzählen an, schmückte die Erzählung mit neuen Detail und erging sich in neuen Analysen. „Noch ein Glück“, schloss er einen seiner Berichte ab, „dass ich mit dem Wagen nicht auf die Gegenfahrbahn gerutscht bin, sondern ans Brückengeländer.“

An dieser Stelle mischte sich die Tante Jolesch erstmals ins Gespräch. Sie hatte bis dahin nur stumm und eher desinteressiert zugehört (denn ihrem Franz war nichts geschehen und das war schließlich die Hauptsache). Jetzt hob sie mahnend den Finger und sagte mit großem Nachdruck: „Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist.“

Sie hat in ihrem Leben viel Zitierens- und Beherzigenswertes gesagt, die Tante Jolesch, aber nie wieder etwas so Tiefgründiges.

Vom gleichnamigen Onkel weiß die Fama nur wenig zu melden, und selbst dies Wenige verdankt er seiner Frau, der Tante. Er war das, was man in Österreich – um den hoch- und reichsdeutschen Ausdruck „Geck“ zu vermeiden – ein „Gigerl“ nannte, legte noch in hohem Alter Wert auf modische, nach Maß angefertigte Kleidung und bestand darauf, dass der Schneider zu diesem Behuf „ins Haus“ käme. Als das zwecks Anfertigung eines Überziehers wieder einmal der Fall war, fuhr die Tante Jolesch mit nicht just gefühlsbetonter Entschiedenheit dazwischen: „Ein Siebzigjähriger lässt sich keinen Überzieher machen“, erklärte sie. „Und wenn doch, dann soll ihn Franzl gleich mitprobieren.“

Der historischen Übersicht wegen sei vermerkt, dass es zu den sozusagen feudalen, vom Adel übernommenen Usancen des reichgewordenen Bürgertums gehörte, bestimmte Dienstleistungen „im Haus“ vollziehen zu lassen, statt den Vollzugsort aufzusuchen. Nicht nur Schneider und Modistin, nicht nur Hut- und Schuhmacher ließ man zu sich ins Haus kommen, sondern – und das sogar täglich inklusive Sonntag – auch den Raseur. Er wurde dementsprechend gut bezahlt und dementsprechend schlecht behandelt. Besonders arg trieb es in dieser Hinsicht der wohlbestallte Pardubitzer Fabrikant Thorsch, Vater des in Berlin und nachmals in Hollywood erfolgreichen Filmschriftstellers Robert Thoeren. Er setzte seinem (obendrein jüdischen) Raseur namens Langer jahrelang mit allen erdenklichen Launen und Mucken zu, und Langer ließ sich das jahrelang gefallen – bis es ihm eines Tages zu dumm wurde. Mitten im Einseifen hörte er plötzlich auf, packte wortlos sein Zeug zusammen und verschwand. Der prompt engagierte Nachfolger nahm zwar die Schikanen seines neuen Kunden willig und ohne Widerspruch hin, aber er rasierte ihn schlecht und wurde alsbald entlassen. Der nächste wiederum beherrschte zwar sein Fach, nicht aber sich selbst: er reagierte gleich auf die erste Beschimpfung so heftig, dass es zur sofortigen Lösung des Dienstverhältnisses kam. Der Vierte, mit dem Herr Thorsch es versuchte, entsprach sowohl als Raseur wie als Beschimpfungsobjet allen Anforderungen, nur entsprach er ihnen nicht mit der nötigen Regelmäßigkeit, erschien manchmal zu spät, manchmal gar nicht und verfiel desgleichen der Kündigung. Herr Thorsch sah sich immer unausweichlicher von der Einsicht bedrängt, dass es für Langer keinen brauchbaren Ersatz gab.

Um diese Zeit kam mein Freund Thoeren, was er von Berlin aus gelegentlich tat, zu kurzem Aufenthalt ins Elternhaus und staunte nicht wenig, als ihm auf der Treppe sein Vater begegnete, in formeller Besuchskleidung, mit Cut, Melone, Stock und Handschuhen.

Wohin gehst du, Papa?“ fragte er verdutzt. Die Antwort erfolgte in gewichtigem, beinahe feierlichen Tonfall: „Mein Sohn – im Leben eines jeden Mannes kommt einmal der Tag, an dem er entweder um Entschuldigung bitten oder sich selbst rasieren muss. Ich geh mich entschuldigen.“

Es ist kein Zufall, dass beide Formulierungen, sowohl die des Herrn Thorsch wie jene der Tante Jolesch, aus einer durchaus persönlichen Situation eine allgemeine Lebensregel ableiten. Beide, sowohl der warnende Hinweis auf den schicksalsschweren Tag, der im Leben eines jeden Mannes einmal kommt, wie die nüchterne Feststellung, dass sich ein Siebzigjähriger keinen Überzieher machen lässt, stellen Schlüsse dar, die unabhängig von ihren spezifischen Voraussetzungen zu Recht bestehen wollen. (Darin liegt ja auch ihre wenn schon nicht beabsichtigte, so doch keineswegs unfreiwillige Komik.)

Dieses Streben nach Allgemeingültigkeit situationsbedingter Erkenntnisse trat überhaupt gern zutage, wie etwa in dem lapidaren Ausspruch der Tante Jolesch: „Ein lediger Mensch kann auch am Kanapee schlafen.“

Es handelt sich hier natürlich nicht um die Fähigkeit eines Unverheirateten, auf wenig bequemer Lagerstatt des Schlafs zu genießen, sondern um die Frage, ob man ihm das zumuten darf. Nach Ansicht der Tante Jolesch durfte man. Das Problem entstand, als zu einem der häufigen Familientage im Hause Jolesch so viele Gäste angesagt waren, dass Not an Unterkunft drohte und dass jedes halbwegs geeignete Möbelstück als Bett herhalten musste. Und die Tante Jolesch entschied, dass diese Notbetten eher für Alleinstehende geeignet wären als für den männlichen oder gar weiblichen Teil von Ehepaaren. Ein lediger Mensch kann auch am Kanapee schlafen, ein verheirateter offenbar nicht.

Wenn nach solchen Gastereien, nach opulenten Mahlzeiten und ausgedehnten Plauderstunden im weiträumigen „Salon“, die letzten Besucher endlich verabschiedet waren, streifte die Tante Jolesch noch lange umher, rückte Fauteuils zurecht, zupfte an Tischtüchern, säuberte sie von unziemlich abgelagerten Speiseresten, von achtlos verstreuter Asche, die es auch vom Teppich wegzukehren galt, schüttelte den Kopf über die von verschüttetem Wein oder Kaffee hervorgerufenen Flecke, sammelte Zigarren- und Zigarettenstummel ein, die in manches Häkeldecken ein Loch gesengt hatten, und murmelte missbilligend immer wieder: „Ein Gast ist ein Tier.“

Sie sprach das allerdings nicht hochdeutsch aus. Sie sagte: „E Gast is e Tier.“ Sie bediente sich jenen lässigen, anheimelnden, regional gefärbten Jargons, der (vom richtigen „Jiddisch“ weit entfernt) noch Reste des einstmals im Ghetto gesprochenen „Judendeutsch“ aufbewahrte und eben darum in den nunmehr besseren Kreisen streng verpönt war oder gerade noch innerhalb der häuslichen vier Wände toleriert wurde. Seine öffentliche Pflege beschränkte sich auf die in Budapest und Wien florierenden Jargonbühnen, die noch bis 1938 über ganz hervorragende Komiker verfügten. In widerwärtig verstümmelter Form grassiert dieser Jargon in antisemitischen Witzen und tut das wohl auch heute noch. Als Verständigungsmittel ist er ausgestorben, weshalb er im folgenden ab und zu eines Kommentars bedürfen wird. Auch möchte ich gleich an dieser Stelle anmerken, dass ich bei der Wiedergabe bestimmter Redewendungen, Ausdrucksweisen und Tonfälle in hohem Maß auf das sprachliche, ja sprachmusikalische Verständnis des Lesers angewiesen bin. Ich kann hier nur die Partitur liefern; der Klang will ergänzt sein.

Verstöße gegen das Hochdeutsche und dessen Grammatik wurden übrigens nicht nur von der Tante Jolesch und ihresgleichen begangen. Wenn sie „am Kanapee“ sagte statt korrekt „auf dem Kanapee“, so war das eine in vielen deutschen Dialekten übliche Sprachverschleifung, die sich zumal in Österreich eingebürgert hat und von so ernstzunehmenden Autoren wie Heimito von Doderer und seinem Schüler Herbert Eisenreich sogar im Druck beibehalten wird. Die Tante Jolesch sagte ja auch nicht „auf dem Land“, sondern „am Land“:

„Am Land kann man nicht übernachten“, lautete eine von ihr geprägte Sentenz, die mit „Land“ ungefähr alles meinte, was nicht „Stadt“ war, und wo es infolge zurückgebliebener Wohnkultur keine akzeptablen Nächtigungsmöglichkeiten gab. Der Begriff „Land“ wäre hier sinngemäß durch „flach“ zu ergänzen, bezog sich also nicht auf die vorwiegend gebirgigen Sommerfrischen, obwohl auch für sie die Wendung galt, dass man „aufs Land“ ging – hier jedoch in positivem, durch gute Luft und Gottes freie Natur gekennzeichnetem Unterschied zur Stadt.

Das verweist uns auf eine weitere Eigenheit der Tante Jolesch, nämlich auf ihre höchst reservierte Einstellung nicht nur zum „Land“ in beiderlei Sinn, sondern auch zu Städten jeglicher Art, Größe, Schönheit und Berühmtheit, ja zum Ortswechsel schlechthin. Schon die Reisevorbereitungen, mit denen man doch niemals rechtzeitig fertig wurde, widerstrebten ihr: „Abreisen sind immer überstürzt“, sagte sie.

Und mit den Reisen als solchen wusste sie erst recht nichts anzufangen. Zwar gehörte es – ähnlich wie die Gepflogenheit, Schneider und Raseur „ins Haus“ kommen zu lassen – fast unerlässlich zum guten Ton und zur gehobenen Lebenshaltung, möglichst weite und kostspielige Reisen zu unternehmen, sich mit dem Besuch möglichst vieler attraktiver Städte ausweisen zu können und durch die Berichte darüber im Bekanntenkreis möglichst viel Neid zu erwecken – aber für die Tante Jolesch hatte das alles keinen Reiz. Auch an den diesbezüglichen Gesprächen, am genießerischen Austausch von Erfahrungen und Vergleichen pflegte sie sich nicht zu beteiligen. Ein einzigesmal griff sie mit einer abschließenden Feststellung ein: „Alle Städte sich gleich, nur Venedig is e bissele anders.“

Rein äußerlich erinnert das an eine Formulierung ungesicherten Ursprungs, als deren Schöpfer abwechselnd irgendjemandes Tante, Onkel oder Großvater auftritt und die in der Emigration häufig zitiert wurde: „Ich bin überall e bissele ungern.“ Aber die Ähnlichkeit kommt übers Phonetische nicht hinaus. Wenn die beiden Aussprüche überhaupt etwas gemeinsam haben, dann höchstens einen gewissen Mangel an Fernweh. Er ist nicht entscheidend. Entscheidend, und zwar zugunsten der Tante Jolesch, ist die tiefe Skepsis allem Unbekannten gegenüber, ist die Abneigung, sich für Fremdes nur der Fremdheit halber zu begeistern, ist das gesunde Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und das eigene Urteil, das sich von keiner Kulisse und keinem Klischee blenden lässt.

Gern würde ich der Tante Jolesch einen Ausspruch zuschreiben, den sie aus zeitlichen Gründen leider nicht getan haben kann. Es tat ihn die alte Frau Zwicker, die 1938 mit ihrer Familie nach New York emigrierte und in Riverdale, einer weit außerhalb der Stadt gelegenen Wohnsiedlung, bescheidene Unterkunft im ersten Stock eines Reihenhauses fand. Dort saß Frau Zwicker stundenlang am Fenster, sah in der Ferne die undeutlichen, dunstverhangenen Konturen der Skyline (die sie vielleicht für eine Fata Morgana oder für sonst etwas Irreales hielt), sah in der Nähe den träg und schmutzig dahinfließenden Hudson, sah zum Bersten gefüllte Abfallkübel und streunende Katzen, hörte das Lärmen spielender Kinder und dachte an vergangene Zeiten.

Ein gleichfalls emigrierte Freund der Familie kam vorbeigeschlendert: „Na, wie gefällt´s Ihnen in New York, Frau Zwicker?“, fragte er zum Fenster hinauf. Und bekam von Frau Zwicker eine Antwort, in der unmutige Verwunderung über die dumme Frage mitschwang: „Wie soll es mir gefallen am Balkan?“

Das könnte wahrlich auch die Tante Jolesch gesagt haben. Aber sie hat um diese Zeit nicht mehr gelebt.

Sie ist 1932 gestorben, friedlich und schmerzlos, von Ärzten betreut, von der Familie umsorgt, zu Hause und im Bett – wie damals noch gestorben wurde (und wie es bald darauf so manchem ihrer Angehörigen nicht mehr vergönnt war).

Kurz vor dem Ende offenbarte sich ihr Charakter und ihre Lebensweisheit in einem letzten Ausspruch, mit dem sie das Geheimnis ihrer weithin berühmten Kochkunst preisgab – und zu dem eine in jeder Hinsicht passende Vor-Geschichte gehört.

Gleich allen wahren Köchinnen, die ihre Kunst im häuslichen Gehege ausübten, war auch die Tante Jolesch ausschließlich auf die Genussfreude und das Wohlbehagen derer bedacht, denen sie ihre makellos erlesenen Gerichte auftischte. Es sollte den anderen munden, nicht ihr. Sie selbst begnügte sich damit, ihren Hunger zu stillen. Als man sie einmal nach ihrer Lieblingsspeise fragte, wusste sie keine Antwort.

Aber du musst doch schon draufgekommen sein, was dir am besten schmeckt“, beharrte der Frager. Nein, um solche Sachen kümmere sie sich nicht, replizierte ebenso beharrlich die Tante Jolesch (wobei sie in Wahrheit nicht „Sachen“ sagte, sondern „Narreteien“ und genau genommen „Narrischkaten“). Der Wissbegierige ließ nicht locker und spitzte nach einigem Hin und Her seine Frage vermeintlich unentrinnbar zu: „Also stell dir einmal vor, Tante – Gott behüte, dass es passiert – aber nehmen wir an: du sitzt im Gasthaus und weißt, dass du nur noch eine halbe Stunde zu leben hast. Was bestellst du dir?“

Etwas Fertiges“, sagte die Tante Jolesch.

Wäre es nach den Verehrern ihrer Kochkunst gegangen, dann hätte sie sich als Abschiedsmahl ihre eigenen „Krautfleckerln“ zubereiten müssen, jene köstliche, aus kleingeschnittenen Teigbändern und kleingehacktem Kraut zurechtgebackene „Mehlspeis“, die je nachdem zum Süßlichen oder Pikanten hin nuanciert werden konnte: in der ungarischen Reichshälfte bestreute man sie mit Staubzucker, in der österreichischen mit Pfeffer und Salz.

Krautfleckerln waren die berühmteste unter den Meisterkreationen der Tante Jolesch. Wenn es ruchbar wurde, dass die Tante Jolesch für nächsten Sonntag Krautfleckerln plante – und es wurde unweigerlich ruchbar, es sprach sich unter der ganzen Verwandtschaft, wo immer sie hausen mochte, auf geheimnisvollen Wegen herum, nach Brünn und Prag und Wien und Budapest (vielleicht mittels Buschtrommel) bis in die entlegensten Winkel der Puszta -, dann setzte aus allen Himmelsrichtungen ein Strom von Krautfleckerl-Liebhabern ein, die unterwegs nicht Speise noch Trank zu sich nahmen, denn ihren Hunger sparten sie sich für die Krautfleckerln auf und den Durst löschte ihnen das Wasser, das ihnen in Vorahnung des kommenden Genusses im Mund zusammenlief.

Und ein Genuss war´s jedes Mal aufs neue, ein noch nie dagewesener Genuss.

Jahrelang versuchte man der Tante Jolesch unter allen möglichen Listen und Tücken das Rezept ihrer unvergleichlichen Schöpfung herauszulocken. Umsonst. Sie gab´s nicht her. Und da sie mit der Zeit sogar recht ungehalten wurde, wenn man auf sie eindrang, ließ man es bleiben.

Und dann also nahte für Tante Jolesch das Ende heran, ihre Uhr war abgelaufen, die Familie hatte sich um das Sterbelager versammelt, in die gedrückte Stille klangen murmelnde Gebete und verhaltenes Schluchzen, sonst nichts. Die Tante lag reglos in den Kissen. Noch atmete sie.

Da fasste sich ihre Lieblingsnichte Louise ein Herz und trat vor. Aus verschnürter Kehle, aber darum nicht minder dringlich kamen ihre Worte: „Tante – ins Grab kannst du das Rezept ja doch nicht mitnehmen. Willst du es uns nicht hinterlassen? Willst du und nicht endlich sagen, wieso deine Krautfleckerln immer so gut waren?“

Die Tante Jolesch richtete sich mit letzter Kraft ein wenig auf: „Weil ich nie genug gemacht hab …“ Sprach´s, lächelte und verschied.

Damit glaube ich alles berichtet zu haben, was ich zur Ehre ihres Andenkens zu berichten weiß. Ein kleiner Nachtrag noch, der diesem Andenken keinen Abbruch tun wird: die Tante Jolesch war nicht schön. Zwar drückten sich Güte, Wärme und Klugheit in ihrem Gesicht zu deutlich aus, als dass sie hässlich gewirkt hätte, aber schön war sie nicht. Tanten ihrer Art waren überhaupt nicht schön.

Ein Onkel meines Freundes Robert Pick hatte so etwas Hässliches zur Frau genommen, dass sein Neffe ihn eines Tages geradeheraus fragte: „Onkel, warum hast du die Tante Mathilde eigentlich geheiratet?“ Der Onkel dachte eine Weile nach, dann zuckte er die Achseln: „Sie war da“, sagte er entschuldigend.

Von solcher exzessiver Hässlichkeit konnte bei der Tante Jolesch nun freilich keine Rede sein, und sie ihrerseits hat nach „schön“ oder „hässlich“ erst gar nicht gefragt, für sie fiel das unter den gleichen Begriff von „Narrischkeiten“ wie die Frage nach ihrer Lieblingsspeise. Sie war davon durchdrungen, dass man derlei Äußerlichkeiten nicht wichtig zu nehmen hatte, und wer das dennoch tat, setzte sich ihrem Tadel, wo nicht gar ihrer Verachtung aus.

Als einer ihrer Neffen auf Freiersfüßen ging und zum Lob seiner Auserwählten nichts weiter vorzubringen hatte als deren Schönheit, bedachte ihn die Tante Jolesch mit einer galligen Zurechtweisung: „Schön ist sie? No und? Schönheit kann man mit einer Hand zudecken!“

Nein, sie hielt nicht viel von Schönheit, bei Frauen nicht und schon gar nicht bei Männern. Und so schließe ich dieses Kapitel mit einem Ausspruch, der die Tante Jolesch nicht nur in sprachlicher Hinsicht auf dem Höhepunkt ihrer Formulierungskunst zeigt:

„Was ein Mann schöner is wie ein Aff, is ein Luxus.“

von Friedrich Torberg, 1973/74

oepb-Anmerkung:

Der große Friedrich Torberg nahm selbst – leider – eine unbeantwortete Frage mit ins Grab. Nämlich jene, ob es diese Tante Jolesch tatsächlich gegeben hat, oder ob sie seiner reichhaltigen Phantasie entsprang. Dieser Umstand ist nicht genau überliefert, wenngleich er, Torberg, zu Lebzeiten schwor, dass es die Tante tatsächlich gegeben hatte. Fakt ist jedoch auch, dass es Tanten, die der Tante Jolesch in ihrem Handeln und Tun überaus ähnlich waren, in der Österreich-Ungarischen Monarchie sehr wohl gab und dass eine Schilderung über genau so eine Tante der Wahrheit entsprach und partout nicht an den Haaren herbeigezogen ist. „Tante Jolesch´s“ gab es eben überall, in Prag und Brünn, in Wien und Budapest, und deren Leben und reichhaltiges Wirken quasi rückwirkend zu würdigen – genau das verfolgte Friedrich Torberg mit „seiner“ Tante Jolesch.

Über Friedrich Torberg

Der große österreichische Autor, Schriftsteller, Humorist, Feuilletonist, Literat und Welt-Mensch Friedrich Torberg (*16. September 1908 in Wien), der seine Wiener Wurzeln, trotz Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA, nie verloren hatte, kehrte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in seine geliebte Heimatstadt zurück und wirkte hier bis zu seinem Ableben am 10. November 1979. Friedrich Torberg liebte nicht nur sein überaus zahlreiches schriftstellerisches Schaffen, es war für ihn geradezu eine Selbstverständlichkeit, Briefe von Hand zu beantworten. Am 16. Oktober 1979 wurde ihm der „Große Österreichische Staatspreis für Literatur” verliehen. Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky meinte anhand seiner Grabrede am 19. November 1979: „Er war verwurzelt in der Welt von gestern, aber er hat ein großes Stück hinübergerettet in die Welt von heute und er hat für uns ein Erbe verwaltet, das nicht vertan werden sollte.” Friedrich Torberg fand am Wiener Zentralfriedhof, gleich neben Arthur Schnitzler, seine letzte Ruhestätte.

Aus Anlass des 40. Todestages von Friedrich Torberg am 10. November 2019 bringen wir in nächster Zeit hier bei uns einige seiner Werke, die er zu Lebzeiten dem oepb für die weitere Publizierung überlassen hatte.

Bitte beachten Sie auch diese Friedrich Torberg-Geschichten bei uns;

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